Re: Miles Davis

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Ein interessanter Aspekt, der in der ganzen Diskussion bisher noch nicht erwähnt wurde, ist sicherlich die Tatsache, dass Davis‘ Eltern 1927 als reiche Leute, die sie waren, in ein Viertel von St. Louis zogen, dass keine(!) Rassentrennung praktizierte. Sie flüchteten sozusagen vor dem offen praktizierten Rassismus und den alltäglichen Diskriminierungen in eine noble Gegend, wo solche Dinge höchstens unterschwellig spürbar waren und Miles ab dem zweiten Lebensjahr relativ unbeschwert aufwachsen konnte. Dies ermöglichte ihm sogar den Besuch einer gemischtrassigen Schule. Sein Vater war Anhänger von Marcus Garvey, der für die Rückkehr nach Afrika eintrat, während seine Mutter eine Gleichberechtigung der Rassen forderte. Interessant in Bezug auf unterschwelligen Rassismus, dem man als Schwarzer auch in einer solchen Umgebung ausgesetzt war und ist, ist die Episode, die Davis aus dem Musikunterricht einer weissen Lehrerin schildert, die den Blues als Musik armer unterdrückter schwarzer Baumwollpflücker beschreibt. Er korrigierte sie nach eigener Aussage dahingehend, dass er sehr wohl den Blues spiele, obwohl er weder arm noch traurig sei noch jemals Baumwolle gepflückt habe. Diese Episode wirft meines Erachtens ein Schlaglicht auf seinen Charakter, seinen Stolz, der ihm sicherlich von seinem Vater vermittelt wurde, das Ablehnen von rassistischen Klischees und die Wut über die Reaktion der Lehrerin, die sich in ihrer Vorurteilsroutine aus der Bahn geworfen sah. Ich bin weder Hobby- noch Küchenpsychologe, aber seine Gedanken in seiner Autobiographie zu schematisch ähnlichen Situationen zeigen ein immer wiederkehrendes Reaktionsmuster: nämlich die augenblickliche, rebellische, alles andere als von Angst geprägte Reaktion auf Diskriminierungen aller Art. Dies als Ausgangspunkt für einen schwarzen Rassismus zu werten, ja in aller Konsequenz als unausweichlich darzustellen, hiesse die Verhältnisse von Opfer-Täter-Relation umzukehren. Was in der freien Rede seiner Autobiographie (das macht sie so faszinierend) immer wieder deutlich wird, ist das Misstrauen gegenüber Weissen, nicht ein sich entwickelnder Rassismus. Umso bezeichnender sind die geradezu liebevollen Passagen über beispielsweise Gil Evans, der ihn niemals auch nur spüren lassen hatte, das Mr. Davis überhaupt eine andere Hautfarbe hatte. Das Thema war zwischen ihnen einfach nicht existent. Ähnlich die Schilderungen über seinen Aufenthalt in französischen Existentialistenkreisen, in denen er sich wohl fühlte wie nie zuvor.

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