Re: Miles Davis

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redbeansandriceich glaub ich tendier jetzt doch mehr richtung rassist als vorher

Das Thema MD und Rassismus lässt mir keine Ruhe, ich will versuchen, noch einmal auszuholen und zu erklären, weshalb ich den Begriff in diesem Zusammenhang kurzschlüssig finde.

Es ist selbstverständlich überhaupt kein Problem, Zitate zu finden, die belegen, dass MD Dinge sagte und tat, die in unserer gutbürgerlich-weißen Kategorisierung unter Rassismus subsumierbar sein könnten. Wie er Bill Evans wegschickte mit dem verächtlichen Spruch, „white oppinions“ seien jetzt gerade nicht gefragt, wurde schon genannt. Eine andere Äußerung aus dieser Ecke: Eines Tages, soll er mal zu Juliette Greco gesagt haben, werde er einen weißen Rolls-Royce fahren, mit einem weißen Chauffeur.

Dass MD ein Arschloch sein konnte und oftmals war: unbestritten. Nur möchte ich diese Haltungen, diese provokativen Äußerungen, diese bewusst verletzenden und beleidigenden, bewusst aneckenden (heute würde man sagen: bewusst nicht politisch korrekten) Äußerungen in einen Deutungshorizont einordnen. Den der Wut. Der Wut über lebenslang erfahrenen Rassismus, mit dem Weiße in Amerika Schwarze in Amerika unterdrückten, diskriminierten, versklavten, verletzten, beleidigten, ausgrenzten, ausbeuteten: offensichtlichen Rassismus, latenten Rassismus, hasserfüllten Rassismus, herablassenden Rassismus, wohlmeinenden Rassismus, alltäglichen Rassismus, exzesshaft ausbrechenden Rassismus, verbalen Rassismus, gewalttätigen Rassismus. Dass MD all das erlebt hat, dürfen wir, glaube ich, als gegeben annnehmen.

Es gibt viele Modelle, damit umzugehen. Drei bekannte sind:

1.
Das Martin-Luther-King-Modell: Gegen Rassismus kämpfen, auf eine ethisch unangreifbare Art, bei der kein wohlmeinender, aufgeklärter Mensch widersprechen kann. Dies ist eine Haltung, die dem gutbürgerlichen, aufgeklärten, weißen, liberalen Bewusstsein natürlich keinerlei Probleme bereitet.

2.
Das Onkel-Tom-Modell: Anpassung, Freundlichkeit, betonte Harmlosigkeit, die den weißen Herren nicht provoziert, eine Haltung, die es ermöglicht, einigermaßen ungeschoren zu leben (die nette Haushälterin in „Vom Winde verweht“). Wer sich so verhält, erhofft vielleicht Gleichberechtigung, aber er fordert sie nicht. Eine Haltung aber, die um Respekt wie um ein Almosen bettelt, hat MD aufs Finsterste abgelehnt.

3.
Das Staggerlee-Modell: Der Schwarze buhlt nicht um freundliche Aufnahme im Kreise der bürgerlichen, weißen Wohlmeinenden, indem er noch moralisch integrer ist als sie; der Schwarze duckt sich auch nicht demütig lächelnd weg, damit er nicht geprügelt, sondern wohlwollend am Rande der Gesellschaft geduldet wird. Der Schwarze fordert offensiv seinen Platz nach seinen eigenen Regeln. Und das kann unter Umständen heißen: Er nimmt sich offensiv das Recht heraus, auch großkotzig zu sein, egomanisch, ein Outsider, ein Outlaw, nicht verhuscht, nicht vorsichtig, nicht mit Respekt-Almosen und Anerkennungs-Brosamen zufrieden. Er will die anderen nicht davon überzeugen, dass er Rechte hat – er nimmt sich die Rechte einfach; ein rebellischer Akt der Selbstermächtigung. Es gibt eine lange Traditionslinie für diese Haltung: Die mythische Gestalt des Staggerlee gehört an den Anfang, der Schwergewichtsboxer Jack Johnson passt hierher; wie Sly Stone, ein wichtiger Wahlverwandter von MD, sich in diese Reihe fügt, kann man bei Greil Marcus (Mystery Train) nachlesen; Muhammad Ali und Malcolm X bilden interessante Variationen (allerdings auch markante Modifikationen) des Typus; und der Gangsta-Rapper ist die jüngste Inkarnation des Rollenmodells. Und die Reaktion des aufgeklärten, liberalen, wohlmeinenden Weißen ist immer dasselbe: Moment, das geht jetzt aber zu weit! Wir sind sehr wohl für die Gleichberechtigung der Schwarzen – aber bloß, wenn sie schön vernünftig sind!

Dass das Jack-Johnson-Modell in moralische Ambivalenzen und Dubiositäten mündet, braucht wohl kaum eigens betont zu werden. Natürlich hat sich MD in seinem Leben oft wie ein überlebensgroßes Ekel verhalten.

Ich finde es nur extrem heikel, hier vorschnell mit dem Begriff „Rassismus“ zu hantieren. Denn MDs Verhalten ist zuvorderst eine ANTWORT auf erlebten Rassismus. Es ist die Antwort der lebenslangen Wut, des provokatorischen Trotzes, der bewusst harschen Verweigerung. Diese Haltung lässt sich vielleicht in einem Satz von Sly Stone zusammenfassen: „Don’t call me nigger, whitey.“ Frei übersetzt: Ich werde einen Scheiß tun und dich Bleichgesicht höflich darum bitten, mich doch bitteschön freundlicherweise nicht zu diskriminieren. Wenn du mich nicht respektierst, zahl ich’s Dir mit gleicher Münze heim. Und was, wenn Du aufgeklärtes Bürgersöhnchen dann mich – ausgerechnet mich! – einen „Rassisten“ nennst? Ha, so weit kommt’s noch, dass ich mir von den Weißen erklären, definieren, vorschreiben lasse, welche Reaktionen auf den Rassismus erlaubt sind und wann ich über die Stränge schlage …

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