Re: Pressemappe

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mistadobalina

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http://www.spiegel.de/netzwelt/netzkultur/0,1518,394760,00.html

MP3-GEJAMMER
Die unerträgliche Leichtigkeit der Files

Von Christian Stöcker

Von diesem Schlag wird sich die MP3-Kultur nicht so schnell erholen. Wissenschaftler und Superstars der 70er Jahr sind sich einig: Songs in Fileform sind Teufelszeug, MP3-Player musikalische Liebestöter und Ohrenschinder. Sogar Studien gibt es schon.

Früher war alles besser. Kulturell zum Beispiel: Es gab keine fernsehfabrizierten „Superstars“, keine verdorbenen Kindergartenclowns die als „Comedians“ firmierten, keine kostenpflichtigen Rülpsgeräusche für Handys. Früher, meinen zumindest ein paar britische Forscher, wurde Kultur noch mit Liebe gemacht und auch mit Liebe konsumiert. Musik zum Beispiel.

Songs in der Hosentasche: „Eher passive Einstellung“?“Im 19. Jahrhundert wurde Musik als wertvoller Schatz mit grundlegenden und fast mystischen Kräften zur menschlichen Kommunikation betrachtet: Sie wurde in klar definierten Kontexten erlebt, und ihr Wert stand in unmittelbarem Bezug zu diesen Kontexten“, sagt der Musikpsychologe Adrian North von der University of Leicester. Heute, sagt North, ist es damit vorbei. Schuld daran sei Steve Jobs.

Nicht Steve Jobs direkt und allein. Aber all die großen und kleinen Steve Jobs dieser Welt, die unbedingt Musik über das Internet verkaufen und in winzige Plastikquader hineinstopfen und von da aus direkt in die bemitleidenswerten Gehörgänge der Jugend von heute schleusen wollen. Die MP3-Player-Mafia gewissermaßen. Die Musikdigitalisierer. Die Saugdienstleister. „LEISER!“, schreit übrigens auch The-Who-Gitarrist Pete Townshend – aber davon später.

Nochmal North: „Weil Musik unterschiedlichster Arten und Genres jetzt so weithin verfügbar ist, über tragbare MP3-Player und das Internet, lässt sich argumentieren, dass die Menschen Musik jetzt viel stärker aktiv in alltäglichen Hör-Kontexten nutzen als je zuvor.“ Schlimmer noch, „die Hörkontexte entscheiden am Ende über den Wert, den die musikalische Erfahrung für den jeweiligen Zuhörer hat.“

Da hat er recht!

Teufel noch mal, Mr. North, das stimmt. Das Eurodisco-Gefiepe, dass ich in irgendwelchen Schuhgeschäften über mich ergehen lassen muss, nervt mich manchmal auch ziemlich. Gut, wenn man dann einen MP3-Player dabeihat, der einem ein bisschen alternativen musikalischen Erfahrungswert zur Verfügung stellt. Oder habe ich das falsch verstanden? „Der Grad der Verfügbarkeit und Auswahlmöglichkeiten hat jedoch zu einer eher passiven Einstellung zu Musik geführt, die man im Alltag hört“, sagt North. Um das mal zu übersetzten: Die Wissenschaftler finden, wir lieben Musik einfach nicht mehr genug. So unerträglich leicht verfügbar darf Sound nicht sein.

North und sein schlagkräftiges Forscherteam haben 346 Menschen zwei Wochen lang jeden Tag eine SMS geschickt. Die Telefonbesitzer mussten dann jedes Mal einen Fragebogen ausfüllen, in dem sie unter anderem angaben, was für Musik sie gerade hörten, und welche sie seit der letzten Forscher-SMS gehört hatten. Die verblüffenden Resultate: Die Leute hörten ziemlich viel Musik, oft auch allein, und meistens war es „Pop“ – was immer North und seine Leute darunter verstehen. Die Musik gefiel ihnen unterschiedlich gut, je nachdem, wo sie sie hörten, und ob sie sich ihren Soundtrack selbst ausgesucht hatten. So weit, so sensationell.

Manche hören Musik beim Bügeln. Skandal!

Jetzt aber kommt die Crux: Viele Leute machten noch irgendetwas anderes, während sie Musik hörten. Zum Beispiel: Bügeln, abspülen, Briefmarken in Alben kleben, Häkeln, Zwiebeln schneiden. Meistens hörten die Leute nämlich zu Hause und abends Musik. Nur „eine geringe Anzahl der Fälle“ trug sich in der Öffentlichkeit zu.

Trotz alledem leiten North und seine Musikologen aus ihren Resultaten die Behauptung ab, dass unser Musikkonsum heutzutage „nicht mehr notwendigerweise durch eine tiefe emotionale Investition gekennzeichnet ist.“

Ganz abgesehen davon, dass auch ein, sagen wir mal, angeheiterter Minenarbeiter im Sheffield des 19. Jahrhunderts dem Fiedelspieler in seinem Pub nicht notwendigerweise mit tiefer emotionaler Hingabe gelauscht hat – was, bitteschön, hat das alles mit MP3-Playern und Musikdownloads zu tun? Radios haben die Leute seit den zwanziger Jahren zu Hause stehen, Plattenspieler noch länger. Der erste Walkman kam 1978 auf den Markt.

Und da kommt The Who ins Spiel

In diesem Jahr starb übrigens auch Keith Moon, der legendäre Schlagzeuger von The Who, an einer Überdosis Pillen – für viele Fans das endgültige Ende der Band. Frontmann Pete Townshend hörte zu diesem Zeitpunkt vermutlich schon ziemlich schlecht, weil er bereits viele Jahre lang neben vorsätzlich bis zum Anschlag ausgereizten Lautsprechertürmen Gitarren zertrümmert hatte.

Inzwischen aber hat der Rock-Gott andere Sorgen. „Wenn Sie einen iPod oder so etwas benutzen, oder ihr Kind, KÖNNTEN sie Glück haben … Aber meine Intuition sagt mir, dass entsetzliche Probleme auf Sie zukommen.“, schrieb Townshend auf seiner Webseite. Er sorgt sich, kein Witz, ums Gehör der Jugend.

Eine verblüffende Warnung aus der Feder eines Mannes, der selbst fast taub ist, dessen Band in den Siebzigern jahrelang als lauteste Band der Welt im Guinness-Buch stand, (und deren Musik übrigens dennoch von Vielen als „wertvoller Schatz mit grundlegenden und fast mystischen Kräften“ betrachtet wurde – und das im 20. Jahrhundert!). Zur Erinnerung: Der erste Walkman kam … aber das hatten wir schon.

Was uns diese Meldungen jedenfalls sagen: Es geht wieder los. Die Rocker von damals, die Musik-Besserwisser und „Meine Bands sind cooler als deine Bands“-Menschen aus den Siebzigern sind alt genug, um Studien zu organisieren oder Blogeinträge zu schreiben, die der Welt verdeutlichen sollen, dass früher alles besser war. Dass MP3s keine richtige Musik mehr sind. Dass sie die Ohren kaputtmachen und der Musik die Seele rauben.

Die Linie der Pop-Bewahrer verläuft jetzt von den „Gitarren-und-echter-Schweiß“-Verfechtern über die Vinylfetischisten bis hin zu den CD-Käufern, die jetzt – endlich! – wenigstens auf die MP3-Sauger herabblicken dürfen. Weil denen ja nun wirklich ganz offensichtlich wirklich die Leidenschaft fehlt. Wissenschaftlich erwiesen. Fragen sie Mr. North.

© SPIEGEL ONLINE 2006
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When I hear music, I fear no danger. I am invulnerable. I see no foe. I am related to the earliest time, and to the latest. Henry David Thoreau, Journals (1857)