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Charles Bell and The Contemporary Jazz Quartet – Another Dimension
Charles Bell (p), Bill Smith (g), Ron Carter (b), Allen Blairman (d)
Atlantic, 1962
Vor einiger Zeit habe ich mich auf die Suche gemacht, an welchen Alben Ron Carter beteiligt gewesen ist, die ich noch nicht kenne. Dabei bin ich auf „Another Dimension“ gestoßen. Mittlerweile ist die LP in Form einer originalen Stereo-Pressung bei mir eingetroffen und sie rotiert seit einiger Zeit auf dem Plattenteller, so dass ich mir gedacht habe, die Session könnte etwas für diese Rubrik sein.
Bis auf Carter waren mir alle Musiker bis dato unbekannt. Bell wurde 1933 in Pittsburgh geboren und hatte bei der Entstehung des Albums bereits einen Bachelor in Komposition, wie er auch Gesang unterrichtete. Mit seinem Quartett gewann er bereits das Intercollegiate Jazz Festival der Georgetown University 1960 und stach damit u.a. die Jazz Brothers der Mangione Brothers aus. 1962 trat er außerdem auf einem internationalen Jazz Festival in Washington auf und erreichte eine Fünf-Sterne-Bewertung des Down Beat Magazins für ein erstes Album mit dem Contemporary Jazz Quartet, allerdings mit Frank Traficante am Bass.
Nat Hentoff schreibt in den Liner Notes zum hier vorgestellten Album, dass Bell sich bereits dem ‚Third Stream‘ zuwandte, als dieser Stil noch gar nicht so genannt wurde, mittlerweile aber wieder davon abgekommen war. Bell selbst sagte hierzu: „The history of jazz music has been one long story of a music that evolved while freely borrowing and discarding from all kinds of music, and managing to move on unmarked, but revitalized. In the light of this sort of history, I find it impossible to see any justification for the ‚marriage‘ to another kind of music to create a new music. Jazz is the new music!“ Das mutet alles ein bißchen akademisch an, was natürlich auch den oft sehr euphorisch klingenden Kommentaren Hentoffs geschuldet sein mag, drückt aber recht deutlich den Zugang von Bell aus.
Die Musik der Session ist natürlich Jazz, aber darüber hinaus schwer zu greifen. Zaghaft klassizistisch anmutende Harmonien gibt es ebenso, wie dem Soul Jazz nicht unähnlich klingende Pattern. Trotz allem ist die Musik in meinen Ohren sehr eigenständig und alles andere als überlegt und auskomponiert. Allen voran trägt Ron Carter sehr zum Gelingen der Musik bei. Auch wenn er noch am Anfang seiner Karriere stand, trägt sein volltönender Bass die Musik und haucht ihr sehr viel Wärme ein. Bell führt selbst aus, dass er bislang nie zufrieden mit seinen bisherigen Bassisten war und dadurch sehr über die Zusage Carters erfreut war. Entsprechend hat er ihm quasi auch ein Stück, „Bass Line“ auf den Leib geschneidert.
„Theme“, ebenfalls eine Komposition von Bell, eröffnet rasant, fast schon in Brubeck’scher Manier – den ich für eine deutliche Referenz erachte. Carter walkt mit seinem Bass rasant durch das Stück, wunderbar begleitet von Blairman, der mich sehr an einen leichteren Roy Haynes erinnert. Viel Arbeit mit den Becken, rasant, schattierend, aber nie zu blechernd und dominierend. Bell spielt ebenfalls rasant, sehr leichtfüßig und verzweigt sich gekonnt mit der Gitarre von Bill Smith, die elektrischer und damit rauher klingt.
„Bass Line“ beginnt mit einer laufenden Bassfigur, die nach und nach von Bell und Smith kontrastiert und aufgegriffen wird. Die Anlage des Stückes ist sehr reduziert, auch wenn es Tempo hat und Blairman hält sich vornehm zurück. Vor Carters sattem Hintergrund dominiert hauptsächlich Smith, den ich hier ganz schwer einschätzen kann. Mir gefällt sehr gut, was er da macht und sein Stil ist frei, frisch und wenig von Bluespattern gehemmt. Wie auch im ersten Stück gibt es kleine Auflockerungen mitten im Stück, in die ein bißchen der ‚Third Stream‘-Ansatz durchscheint. Bell übernimmt danach und spielt erst ein flüssiges Solo, lenkt dann aber in ein akkordlastiges Spiel ein. Der letzte Teil ist durch Brüche gekennzeichnet, die abwechselnd dem Gittaristen und dem Pianisten kurze Soli einräumen, bevor Carter zusammen mit Bell in eine Art knapp akzentuierten Wettstreit tritt und beide mit call and response aufeinander reagieren. Das spannende des Stückes ist der durchweg gehaltende Groove des Basses, ohne dass dieser besonders in den Vordergrund tritt.
In „Django“ erweist Bell John Lewis die Ehre und konzipiert das Stück als verhangene, melancholische Ballade, allerdings in mittlerem Tempo und mit einer guten Portion Spannung. Auch hier prägt Smith das Stück mit seiner Gitarre, die mich nun deutlich an Jim Hall und mit dem Klavier von Bell zusammen deutlich an das Duett mit Bill Evans erinnert. Carter lässt das Stück mit einigen sehr schönen Doppelgriffen pulsieren und Bell macht es mir schwer, ihn stilistisch zu greifen. Leichtfüßig, aber tiefgründig. Keine Arpeggien, dafür kurz ausgehaltene Töne, die sich irgendwie vor der Tonsprache Bachs verneigen. Insgesamt wird aus diesem Stück eine tolle Verneigung vor John Lewis, die viele schöne Einfälle beinhaltet, sehr eigenständig klingt und last but not least, einen tollen Groove hat.
Sonny Rollins „Oleo“ ist da schon eher erkennbar. Auch hier ist das Tempo im mittleren Bereich, ohne dass mich das stört. Bell sagt, dass er auf das Stück gestoßen sei, nachdem er Bill Evans damit gehört habe. Und tatsächlich hört es sich dann auch so an, als wäre es aus der Feder von Evans und ein verlorengegangener Track der „Loose Blues“-Sessions. Macht Spaß, ist aber vielleicht der konventionellste Track des Albums.
Die zweite Seite eröffnet mit „Satan Said“, einer schnellen Nummer von Bell. In seinen Augen stellt das Stück einen schreienden Teufel dar und die Band versucht alles, um das Fehlen der dazu wohl notwendigen Hörner auszugleichen. Carter spielt schnelle Läufe im Hintergrund, während Bell die Klaviatur bearbeitet. Die rechte Hand ist sehr flüssig, die linke spielt kurze Akkorde. Smith passt sich ebenfalls dem Tempo an, klingt hier aber etwas beliebig, möglicherweise da ihm angesichts der Geschwindigkeit ein wenig die melodischen Ideen ausgehen. Gegen Ende des Stückes darf Blairman kurz solieren, okay, aber unspektakulär. So schnell wie es begonnen hat, ist es auch schon zu Ende.
„Portrait of Aunt Mary“ ist ein sehr emotionales, aber toll groovendes Stück, das Bell seiner verstorbenen Tante gewidmet hatte. Von Anfang an hat jedes Instrument eine eigene Variation des Themas, was sich in der sich entwickelnden Variation wie ein Präludium von Bach anhört. Blairman akzentuiert spärlich mit der Hi Hat, Carter spielt repetitiv und Bell sowie Smith übrkreuzen sich immer wieder. Smith verhärtet seinen Ton auf einmal, das Stück kommt zum erliegen und entwickelt sich wie ein langsamer Puls sehr langsam, bis durch ein Solo von Bell wieder etwas Fahrt aufgenommen wird. Mit nahezu neun Minuten ist es dann auch das längste Stück der Platte und zieht mich persönlich am meisten in den Bann, gerade was die Gleichberechtigung der Melodieinstrumente angeht, die sich für sich genommen entwickeln, ohne weit voneinander entfernt zu sein. Auch die emotionale Wärme schwingt in der Komposition immer wieder mit. Toll ist der ausklingende Puls von Carters Bass, den ich als Analogie zum sterbenden Puls sehe.
Als Hommage an Coltrane lässt sich das letzte Stück verstehen, ausgerechnet „My favourite things“. Auch hier beschränkt sich Bell nicht auf die reine Interpretation des Stückes, sondern er verarbeitet seine eigene Herangehensweise derart, dass es zu seinem Stück wird. Das Hauptthema trägt Smith vor, während Bell ein schwer zu beschreibendes Moll-Thema im Hintergrund spielt, das dem Track einen Hauch von Mystik verleiht. Hier wird das Etikett Soul Jazz wohl am deutlichsten, allerdings auch, was man unter tollem Soul Jazz verstehen kann. Für Bill Smith wohl das stärkste Stück und mehr oder weniger sein Showcase.
Hentoff endet in den Liner Notes mit der Behauptung, dass die Musik ohne plätschern und große Rhetorik auskommt und dem kann ich zustimmen. Die Musik ist unprätentiös, schnörkellos, changiert aber sehr schön zwischen verschiedenen Stilen und ist sehr von einer persönlichen Vorstellung von Groove geprägt. Natürlich liegen weitere Vergleiche mit dem Modern Jazz Quartet u.a. nahe, trotzdem wirkt die Musik auf mich eigenständig und persönlich.
Leider ist mir nicht bekannt, dass es eine CD-Veröffentlichung gegeben hätte. Es gibt neben den originalen Atlantic-Pressungen allerdings noch englische Pressungen von London. Ich werde mich nun mal nach der Vorgänger-Scheibe auf Columbia umsehen, außerdem soll es Trio-Aufnahmen geben.
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"There is a wealth of musical richness in the air if we will only pay attention." Grachan Moncur III