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Album #42
Gato Barbieri Chapter One – Latin America
Impulse 5020
Encuentros (12:29)
India (8:58)
La China Leoncia Arreo La Correntinada Trajo Entre La Muchachada La Flor De La Juventud (13:38)
Nunca Mas (5:40)
To Be Continued (2:29)
alle tracks comp. von Gato Barbieri mit Ausnahme India (J.A.Flores / M.O.Guerrero)
rec. in Buenos Aires und Rio De Janeiro, April 1973
… und wie kann man so schön auf dem Back-Cover lesen: „… Gato Barbieri recorded … with an astonishing aggregation of Third World musicians.“
Sagen wir es mal so: Wenn ich ohne Vorinfo auf dieses Album treffen würde, ich käme NIE auf die Idee reinzuhören, geschweige denn, es zu kaufen. Der lange Track 3 mit so einem seltsamen Titel, der auf ein angestrengtes Konzept hindeutet. Dazu noch in 4 Teile aufgeteilt – part one bis four. Viele viele Indizien, die mehr auf konzeptlastig statt auf Groove hindeuten.
Wie bin drauf gekommen ? Es ist schon mehr als 20 Jahre her, da hab ich gelesen, dass die Chapter Three revolutionär gut sein soll. Ich hab oberflächlich gesucht und sie nirgends bekommen. Es waren schlechte Zeiten damals. Und dann habe ich die Chapter One in einem Plattengeschäft mit schönen Klappcover stehen sehen und quasi als Ersatz erworben.
Welch ein Album !
Ich hab ja selber mal ein Holzblasinstrument gespielt und habe eine vage Vorstellung wie man Sax so spielen können würde (doppelter Konjunktiv !) wie die Grössen Coltrane, Adderley, Coleman Hawkins etc etc. Ich hab aber kaum eine Vorstellung davon, wie man Sax so spielen kann wie Roland Kirk oder in diesem Fall Gato Barbieri. Vom ersten Hören an hatte ich das Adjektiv „brachial“ im Kopf. Keineswegs hektisch, aber mit soooviel Stärke und Kraft. Praktisch der Jimi Hendrix des Saxes, praktisch der Katsche Schwarzenbeck des Saxes, praktisch hinsichtlich Intonation genau das Gegenteil eines Chet Bakers. Selbst in lyrischen Passagen röhrt er mit sämtlicher Inbrunst in sein Mundstück (wahrscheinlich ist es irgendwie zurückgemischt worden, damit es nicht überbordend dominant wirkt). Selbst wenn in einzelnen Passagen Pan-Flöte, diverse indische Flöten etc. dabei sind, wirkt es absolut inspiriert. Das Ganze ist hinsichtlich der Instrumentierung an sich so abschreckend, dass man aufgrund vielfältiger Erfahrungwerte unterstellt „oh weh – Weltmusikanspruch – da kommt langweiliges Anspruchsvolles auf uns zu“. Stimmt nicht. Es passt alles perfekt. Ist weder überproduziert noch künstlich ambitioniert und Barbieri hat eine Intonation, die unverwechselbar einmalig kraftvoll ist. Manchmal scheint alles durch wilde Selbstverwirklichung auseinanderzudriften. Das sind aber nur kurze Momente – jeweils kurz danach finden die Musiker den jeweils roten Faden des Tracks wieder. Und genau das ist das Spannende – alle sind energiegeladen bis in die Haarspitzen und wenn es zum Ausbruch kommt, werden sie wieder durch die Songstruktur eingefangen. Die melodische Energie geht nie verloren und wird von lateinamerikanischen Versatzstücken begleitet.
Der Front-Cover versinnbildlicht das Album in diesem Fall perfekt: Selbstbewusste stolze Armhaltung, schicke Kleidung, cool die Zigarette und der Hut, ungebändigte verwachsene Haarpracht und ein Blick und eine Attitüde, die von Vorwärtsdrang nur so strotzt, kein Hintergrund, kein Mitmusiker, kein sonstiges Bildchen zu sehen. Gato Barbieri ist selbst ausfüllend – auf dem Album wie auf dem Cover.
Für Skeptiker: Mit den landläufigen Salsa und Cubano – Sachen hat das so wenig zu tun wie Hendrix mit den Charts. Natürlich sind südamerikanische Einflüsse drin – genauso wie man bei Hendrix Blues hört – aber eben ganz was Eigenes. Reinhören. Ein heimliches ganz großes Album.
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