Re: Guns N‘ Roses – Chinese Democracy

#2717475  | PERMALINK

bullitt

Registriert seit: 06.01.2003

Beiträge: 20,757

Hier mal meine Einzelwertung Teil 1:

01. Chinese Democracy ****
Das lange Intro klingt wie Filmmusik und spiegelt das Selbstverständnis des Axl Rose wieder. Anstatt die endlose Produktionsgeschichte durch vorgetäuschte Leichtigkeit zu vertuschen, wird sie Mittel zum Zweck. Als hätte die Welt 15 Jahre nur auf den ersten Ton von Chinese Democracy gewartet, wird ein gigantischer Spannungsbogen aufgebaut, der den eigenen Mythos fast schon anmaßend befeuert. Dann ein metallenes Gitarrenriff und ein Schrei, der beinahe vom Opener des Debüts gesampelt sein könnte. Der Titeltrack ist ein schlichter und rythmusbetonter Rocker, der ohne große Melodie und Schnörkel auskommt. Die Dynamik erinnert an „It´s so easy“. Axls viel zu selten eingesetzte tiefe Tonlage verstärkt den Eindruck.

02. Shackler’s Revenge *****
Die Gerüchte um starke Industrial-Einflüsse bewahrheiten sich. Vermutlich der erste fiese Schlag in die Magengrube aller konservativer Fans, die sich trotz der vergangenen Jahre auf einen nahtlosen Übergang von den Illusions zu Chinese Democracy gefreut haben. Mit den frühen Guns N´Roses hat das musikalisch nichts mehr zu tun und dennoch hört man anhand Axls Stimme natürlich sofort mit wem man es zu tun hat. Und diese so prägnante Stimme gibt’s in all ihren irren Variationen. Schon die erste Strophe beginnt mit einer doppelten Gesangsspur, bestehend aus Axls typisch nöliger Gesangsstimme kombiniert mit der tiefen monotonen „It´s so easy“-Variatne: „I’ve got a funny feeling there’s something wrong today“. Ja, so fühlt man sich beim ersten Hördurchgang. Dann die treibende Bridge: „Don’t ever try to tell me how much you care for me; Don’t ever try to tell me how you were there for me“. Großes kündigt sich an. In einem unverschämt poppigen Chorus, der im besten Sinne völlig überladen wirkt und den Billy Corgan nicht besser hätte inszenieren können, scheint Axls Gesang dann in tausend Ableger zu zerspringen. Seine Stimmen umgarnen sich und die Melodie wird wie durch einen Propeller in die Höhe getrieben: „I don’t believe there’s a reason (I don’t believe you)“. Nach Bucketheads wahnwitzigem Solo, das von einem wütend stampfenden Rhythmus angetrieben wird, schlägt der Song einen weiteren Haken, um in einem finalen Chorus zu enden. Abgeschmackter Hardrock geht anders. Während Slash & Co seit Jahren auf ausgelatschten Pfaden wandeln bewegt sich ihr ehemaliger Frontmann in völlig anderen Sphären. Der Text ist laut Axl inspiriert von den diversen Amokläufen an US-Schulen der vergangenen Jahren.

03. Better ****1/2
Vor Jahren schon einmal einen Tag lang der Score eines Harley-Davidson Werbespots, jetzt die zweite Single des Albums. Hat es sich bei „Shackler“ schon angedeutet, merkt man dem Album seine Reifezeit jetzt deutlich an. „Better“ ist eine durch und durch komplexe und vielschichtige Komposition, die auch nach häufigem Hören kaum in Gänze zu fassen ist. Schon die erste Hälfte verwirrt. Durch die scheinbare Umkehrung von Chorus und Strophe werden jegliche Konventionen des Hardrock-Genres ad absurdum geführt. Die harmonische Hookline der Strophen verleiht dem Song das eigentliche Gesicht und funktioniert als musikalisches Leitmotiv, während der kantige Chorus konterkarierend als Schlenker nur dazu zu dienen scheint, Nebenschauplätze für in sich geschlossene Gitarrensoli und einzelne Bridges zu eröffnen. „Better“ macht keinen Hehl daraus, aus vielen Einzelteilen zusammenmontiert worden zu sein. Doch trotz oder gerade wegen der offen zur Schau getragenen Schweißnähte ergibt sich ein echtes Monster von einem Song.

04. Street of Dreams *****
War „November Rain“ so etwas wie die letzte große und ultimative Hardrock-Ballade, kommt hier die nächste. 17 Jahre später. Der als „The Blues“ bekannt gewordene Track könnte ohne weiteres Axls aufwändige und mit viel Leidenschaft inszenierte Trilogie der Illusions-Tage fortführen. Neben Don´t Cry“, „November Rain“ und „Estranged“ würde sich „Street Of Dreams“ problemlos ins Gesamtbild einfügen lassen. Sogar lyrisch passt der Song ohne viel Phantasie ins Konzept. Was sonst, als seine grenzenlose Obsession von Topmodel Stephanie Seymour kann man sich als Motiv hinter diesen Zeilen vorstellen: „I wanna make you change your mind; And it hurts too much to see you; And how you left yourself behind; Now there’s a hell I can’t describe”. Man sieht Axl förmlich vor sich, wie er diesen Song wie einst gemeinsam mit Elton John bei den VMA’s performed. Nur Kurt Cobain ist nicht mehr da, um auf´s Piano zu spucken.

05. If The World ***
Plätschert etwas uninspiriert vor sich hin. Nicht zum letzten Mal kommen Latino-Gitarren zum Einsatz. Eine gefällige Melodie, ein paar Soundspielereien, Drumcomputer und ein Gitarrensolo, das von Slash sein könnte, sorgen für einen netten, aber unspektakulären Zwischenmoment auf Chinese Democracy.


06. There Was A Time *****

Einer der besten Songs des Albums. Wieder eine Komposition, die sich in ihren knapp sieben Minuten permanent im Wandel befindet und sich, begleitet von endlosen Gitarrensoli, in ein grandioses Finale empor schraubt. Einen roten Faden findet man hier vergeblich und somit steht der Track enger Tradition zu einigen früheren Stücken, allen voran Estranged oder auch Coma von Use Your Illusion. Wobei Axls Affinität zu Song-Metamorphosen bereits auf Appetite For Destruction erkennbar ist, man denke nur an Rocket Queen. Radiotauglich ist das nicht unbedingt, aber das scheint auch nicht gewollt zu sein, wenn man Axl jüngste Stellungnahme richtig deutet: „I don’t see myself as solely Guns but I do see myself as the only one from the past making the effort to take it forward whether anyone approves or not and giving beyond what many would or fight for to do so. The name helped the music more than you could ever know and I’m not talking in regards to studios or budgets I mean it as in being pushed by something and having to get the music to a place where I can find my peace regardless of what anyone says.“ Atmosphärisch aufgeladen wird There Was A Time zusätlich durch die Sounkullissen des Filmkompnisten Marco Beltrami, der auch bei anderen Stücken der Platte beteiligt ist.

…to be continued.

--