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Für Weihnachten ist es schon etwas spät, aber wir kommen ja alle aus anständigen Haushalten, wo es sowieso keinen Schund auf den Gabentisch gibt, sondern gutes Geld. Bitte hier anlegen:
McCloud – Understanding Comcis
Wenn man sich in Erinnerung ruft, dass Comics in der heutigen Form über 100 Jahre alt sind, fällt auf, dass es sehr wenig Bücher über den theoretischen Hintergrund gibt. Sicherlich ich kann mich an Bücher aus den 70ern erinnern, die anhand von Superman zweifelsfrei nachwiesen, dass a) Comics b) die Industrie und c) die USA „faschistisch“ seien. Auch in einigen postmodernen Zeichen-Theorien tauchen sie auf. Aber das ist, wenn nicht eine reine Betrachtung des Inhalts, seltenst eine Analyse des Mediums und nie mit irgendeiner Ahnung von der Materie geschrieben.
Einer der ersten, der sich mit dem Medium Comics befasste, war, wie so oft, Will Eisner. Sein „Comics and Sequential Art“ ist Ergebnis seiner Jahre als „Comic-Lehrer“. Reichhaltig bebildert, ist es neben einer theoretischen Betrachtung des Mediums vor allem eine Anleitung zum Texten/Zeichnen in Textform. Bis 1993 das entscheidende Buch herauskam, dass bis jetzt das wichtigste Werk zum Medium geblieben ist.
Scott McCloud war bis dahin nicht besonders aufgefallen, sein ironisches „Destroy“ ist aber bereits eine Analyse des Superhelden-Genres, ein einziger Kampf, der eine ganze Stadt in Schutt und Asche legt wird beschrieben (und entsprechend großformatig ist es).
„Understanding Comics“ ist eine Abhandlung über die Natur, die Wirkungsweise und die Geschichte der Comics – in Comic-Form. McCloud benutzt eine sich wiederholende Ikonografie (der Smiley als Symbol für Comics) in sehr sicherem Strich und einer intelligenten, nie langweiligen Erzähl- und Argumentationsweise.
Was sind denn nun Comics? Laut McCloud „juxtaposed pictorial and other images in deliberate sequence“, also etwa angrenzende malerische oder andere Bilder in bewusster Reihenfolge. Das umfasst natürlich nicht nur Bildgeschichten wie wir sie kennen sondern auch einige urzeitliche Höhlenzeichnungen, ägyptische Tempelmalerei und der Teppich von Bayeux. Damit entreißt McCloud völlig ungeniert einige Kunstschätze der traditionellen Einordnung, sichert „Legitimität“ und stellt damit auch die Frage, was das Medium denn einzigartig, zur „Neunten Kunst“ macht. In anderen Worten, wenn Comics einzigartig sind und sich von Malerei und Literatur abheben, wie funktionieren sie?
Filme erzeugen über das schnelle Abspielen vieler Bilder die optische Illusion der Bewegung, Literatur bildet Bilder im Kopf. Anhand eines kleinen Bildbeispiels (hier McCloud beim Erklären) wird erklärt worauf es beim Comic ankommt:
Was im Beispiel passiert ist, ist zugleich einfach und kompliziert: ein Mann nimmt seinen Hut ab. Oder? Die zwei Bilder zeigen Ausschnitte aus einem zeitlichen Ablauf, zeigen einen Mann zu unterschiedlichen Zeiten. Natürlich könnte der Mann zwischen den zwei Bildern weggegangen sein, etwas anderes gemacht haben, durch einen Klon ersetzt worden sein etc. Aber nein, wir (und der Zeichner) nehmen das als kontinuierliche Handlung, unmittelbar aufeinander folgend wahr (deswegen „juxtaposed“) und das ist das Besondere an Comics: die Handlung wird nicht durch die Bilder bestimmt, sondern durch den Platz zwischen den Bildern, in unserem Kopf.
Das gibt es nirgendwo anders, das rechtfertigt McClouds Definition und macht Comics zu einem eigenen Medium, mit allen Konsequenzen.
Und das ist nicht alles. McCloud untersucht die Geschichte der Comics, Abstraktionen in Zeichnungen, die Unterschiede zwischen amerikanischen, europäischen (Farbe!) und japanischen Comics (Atmosphäre!) und vieles mehr.
Das Intelligente und Schlüssige machten „Understanding Comics“ zum Renner und sei allen empfohlen, die sich mit Bildern, Bildsprache und Grafiken beschäftigen (in den USA ist Understanding Pflichtlektüre in den Web- und Flash-Designer-Kursen).
McCloud ließ Understanding später „Reinventing Comics“ nachfolgen, das sich vor allem mit der Absatzkrise Ende der 90er und dem WWW beschäftigte, vielleicht zu speziell.
„Understanding Comics“ bleibt bis heute das prägende Werk über Comics und ein Werk, dessen Titel endlich einmal nicht zuviel verspricht.
Das Buch wird natürlich nach wie vor gedruckt, ich würde aber darum bitten, wenn möglich Carlsen für den dämlichen deutschen Titel „Comics richtig lesen“ abzustrafen und das Original zu kaufen.
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If you talk bad about country music, it's like saying bad things about my momma. Them's fightin' words.