Re: Die 500 Besten Songs Aller Zeiten

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faspotun

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in der letzten weltwoche findet sich ein schöner text zu den beiden spitzenplätzen (like a rolling stone & satisfaction) von zeit-redaktor konrad heidkamp:

Kritik
Top Two
Konrad Heidkamp

Vor vierzig Jahren erschuf Bob Dylan «Like A Rolling Stone», und die Rolling Stones brachten «Satisfaction». Das war’s dann für die Beatles.

«Selbst wenn wir es vergeigen sollten», erklärt Bob Dylan, «wir werden auf alle Fälle weitermachen.» Tom Wilson, der Produzent der Session, findet das okay. Es ist der 16. Juni 1965, Dylan probt mit einer zusammengewürfelten Studioband seinen neuen Song «Like A Rolling Stone». Zwei Tage brauchen sie, um ihn so aufzunehmen, dass sie zufrieden sind. «‹Wahnsinn, Baby›, sagt jemand fassungslos. ‹Ich finde, das hört sich gut an›, sagt Wilson.» Was da vom amerikanischen Pop-Mythenforscher Greil Marcus so lakonisch protokolliert wird, ist die Entstehung von 6:34 Minuten Musik, die vor ein paar Monaten, vierzig Jahre später, vom amtlichen Bulletin Rolling Stone zum besten Rocksong des letzten Jahrhunderts gewählt wurde. Ein Dreihundertseitenbuch hat Greil Marcus allein über diesen Song geschrieben, eine mäandernde Spurensuche, die der Faszination eines Liedes nachforscht, das kaum einer unter der Dusche nachsingen kann.

Greil Marcus hätte sich auch jenes anderen Liedes annehmen können, das einen Monat früher, im Mai 1965, aufgenommen worden war: «(I Can’t Get No) Satisfaction» von den Rolling Stones, das in der gleichen Umfrage zur Nummer zwei gewählt wurde, von anderen Zeitschriften, in anderen Ländern wahlweise zur ewigen Nummer unvergleichlich. Ebenso unsingbar, genauso zum Kult erhoben, eine Hymne der gesamten Rockmusik, Metapher für die 1960er Jahre. Am 10. Mai 65 hatte die Band missgelaunt versucht, den Song akustisch als «eine Art Folksong» aufzunehmen. Tags darauf mischte ihn Keith Richards, dem das Gitarrenriff zu «Satisfaction» im Traum gekommen war, mit Hilfe einer Fuzzbox ab, man spielte ihn schneller, härter. Doch auch danach erschien er dem Gitarristen der Band ein bisschen zu schlicht. Richards musste dazu überredet werden, den Song überhaupt als Single herauszubringen, er hielt ihn für «unfertig und nachgemacht». Keine schlechte qualitative Einschätzung und doch ein grobes Missverständnis.

Beide Lieder kamen aus der Tiefe des musikalischen Raumes: So wie sich Bob Dylans «Like A Rolling Stone» auf Ritchie Valens’ «La Bamba» bezog, so basierte «Satisfaction» auf «Dancing In The Streets» von Martha And The Vandellas. Beide Songs hatten eine klangliche Rohheit, die nicht zu den Hits der Zeit passte, zu Petula Clarks «Downtown» oder «Ticket To Ride» von den Beatles. Sie hatten jene Dichte, die nach Verfeinerung verlangt. Bumm, bumm, auf jeden Takt ein Schlag, das war nicht die positive Yeah-yeah-yeah-Art, die ihre Komponistenvorbilder Lennon/McCartney vorgaben: «Oh, no, no, no, hey, hey, hey, that’s what I say.»

Keiner der positiven Hits jenes Jahres, weder «She Loves You» noch «Surfer Girl», erwies sich als das Signal, das 1965 den Funken auslöste. Es waren zwei Aggressions- und Arroganz-Lieder, die vor vierzig Jahren zur Nummer eins und Nummer zwei in den USA wurden, sie bildeten eine neue Fassung der Unzufriedenheitserklärung. «Swinging London» galt als Synonym für den Aufbruch einer Jugend, die – wie der junge Schauspieler Michael Caine erklärte – «keine Vorschriften und Regeln will. Wir wollen die Freiheit, alles tun zu können – wenn wir es denn wollten.» Der Nachsatz wurde später oft überhört. Es ging ums Prinzip, nicht automatisch um die Umsetzung.

Weder die Pille als Grundlage für die Emanzipation der Frauen noch die langen Haare, die den ehemals militärisch freirasierten Männernacken verdeckten, waren wohlfeile Geschenke der Gesellschaft. Der Tabubruch musste erkämpft werden, gegen die feindlichen Blicke der Nachbarn, das Misstrauen der Freunde, gegen die liebende Umarmung der Eltern, die Weigerung von Tank- stellenbesitzern, ihre Toilettenschlüssel herauszurücken. Also pinkelte man an die Wand – «Wir pissen überall», erklärte Mick Jagger, versteckte sich hinter Sonnenbrillen und versuchte den Mädchen dylanesk zu erklären, sie seien an den Falschen geraten, wenn sie Treue erwarteten.

Massstab Zigarette

Dum dum – ba ba baa bababa – dum dum – die Gitarre schnarrt verzerrt und grosskotzig, während die Stimme – «I can’t get no…» – den Klang eines nasenverstopften schwulen Bürgerlichen hat, der einen gelangweilten Adligen mimt. Mick Jagger, das Chamäleon, das bei der Anti-Vietnam-Demo in London mitmarschierte, kurz darauf ein Kricketmatch besuchte und sich der Vereinigung der Landbesitzer anschloss; das zwischen revolutionärem Gestus und Schickeria-Nähe keinen Widerspruch sah (und sieht), singt den Song eher mit Arroganz als mit Aggression. Doch wenn Jagger zur Strophe kommt, wenn er in den Sprechgesang, den weissen Bourgeoisie-Rap, fällt, dann bekommt er jene Sachlichkeit, die seine Arroganz glaubwürdig macht: «When I’m watchin’ my TV / And that man comes on to tell me / How white my shirts can be/ Well, he can’t be a man ’cause he doesn’t smoke / The same cigarettes as me.» Das ist purer Rock ’n’ Roll, gelangweilter Summertime-Blues, vermischt mit jener Blue-Suede-Shoes-Haltung, die keine grössere Beleidigung kennt als die Beschmutzung der blauen Wildlederschuhe. Die eigene Zigarettenmarke wird zum Massstab aller Dinge. Zugleich – und um die Arroganz zu mildern – kehrt er konsum- und bewusstseinskritisch die Werbung gegen sich selbst: Wer mir weisse Hemden verspricht, muss auch meine Marke rauchen. Kürzer und eleganter liess sich die Bewusstseinsmanipulation, wie der Terminus der Zeit damals lautete, kaum erledigen.

Das pure Glücksversprechen der Beatles, das die unvergleichliche Aufbruchstimmung der frühen sechziger Jahre befeuerte, war jetzt mit der Klage des Blues durchtränkt. Die Rolling Stones hatten «(I Can’t Get No) Satisfaction» nicht umsonst im legendären Chess-Studio in Chicago eingespielt, die parallel aufgenommenen Stücke des Albums «Out Of Our Heads» trieften vor Blues. In seiner Mischung aus Aggression und Klaustrophobie überwand dieser erste grosse Stones-Song aus der Feder von Jagger/Richards endgültig das Baby-I-Love-You-Genre. «Satisfaction», das war schon als öffentliches Wort, als «Befriedigung», die reine Provokation.

Man vergisst leicht, dass die Swinging Sixties vor dem Hintergrund des drohenden Atomkriegs stattfanden. Die Versuche, das Volk zum Bau eines privaten Atombunkers unterm Eigenheim zu animieren, und die dazugelieferten Gratisbroschüren und Lehrfilme fürs richtige Verhalten im Falle eines Atomschlags bildeten die Kulisse. Die Gegenwart war die einzige Alternative zu einer Zukunft, die möglicherweise nie kommen würde.

Die Protestsongs wurden zum Ventil für eine Ohnmacht, die man unter dem Deckel des Kommunismusverdachts unter Verschluss hielt. Jede Kritik, jeder Reformversuch, jede Demonstration wurde mit dem Verweis auf das Böse erstickt. Erst als Bob Dylan sein «Blowing In The Wind» sang, sein bissiges Geschichtslehrstück «With God On Our Side», seine «Masters Of War» vorführte, gab es 1963/64 eine Sprache für eine Angst, die sonst in Frühschoppenrunden platt geredet wurde. Nur, populär war diese Sprache noch nicht, zu gitarrenklampfig, zu bürgerrechtsregional und zu vernuschelt sang der US-amerikanische Folksänger. Das «Yeah, yeah, yeah» und das «Baby, I love you» brachten die Kids auf die Beine und zum Weinen – die explosive Mischung aus Protest und Tanzen musste allerdings noch warten, bis zum Jahr 1965.

Es ist kein Zufall, dass die zwei Jahrhundertsongs aus der Verbindung von akustischem Folk und elektrifizierter Rockmusik entstanden, von Kopf und Körper. Tom Wilson, der schwarze Aufnahmeleiter bei Columbia, der vordem schon die Jazz-Avantgardisten John Coltrane und Cecil Taylor produziert hatte und Simon und Garfunkel gegen deren Willen erfolg- reich mit einem Rocksound unterlegte, war, wie eingangs erwähnt, verantwortlich, als Bob Dylan sein «Like A Rolling Stone» aufnehmen sollte. Der 24-jährige Folk- und Protestsänger wollte nach der England-Tournee sein Image loswerden, hatte daran gedacht aufzuhören und Schriftsteller zu werden. Zehn, zwanzig Seiten lang hatte er sich die Wut vom Leibe geschrieben, die Frustration, immer wieder als politischer Barde gehandelt und zur Weltlage befragt zu werden, hatte sich sogar als «mathematischer Sänger» definiert, um der Rolle des «Weatherman» zu entkommen. «Like A Rolling Stone» brachte ihn diesem Ziel ganz nah.

Aggressiv und boshaft versetzt Bob Dylan ein Mädchen ins Märchen – «Once upon a time you dressed so fine / You threw the bums a dime in your prime, didn’t you?», um dann in die Gegenwart der Zukunft zu springen – «Now you don’t seem so proud / About having to be scrounging for your next meal.» Er meint sie, er meint uns, er meint sich selbst, und dann brüllt man den Refrain mit, um das Unglück vorwegzunehmen und es möglicherweise zu bannen.

Man hatte sie/uns/ihn gewarnt, vor all den Gefahren, den Konsequenzen, die hinter jenem Horizont liegen, den manche Swinging Sixties, manche Freiheit, manche Utopie nannten: «When you got nothing, you got nothing to lose.» Und trotzdem war beides möglich: «Satisfaction» zu fordern im Bewusstsein der Gefahr, sich wie ein «Rolling Stone» zu fühlen. Beide Songs funktionieren, weil sie nur im Moment existieren. Sie beginnen mit einem Gitarren- beziehungsweise Trommelschlag, stehen wie ein Monolith im Raum, betäuben jede Analyse und verlöschen mit dem letzten Ton. Repeat! Der Song als poetisches Manifest, ekstatisch und inszeniert.

Wut vor Liebe

Vielleicht kann man diese Songs nicht so lieben, wie man «Sweet Marie» oder «Angie» liebt, aber bei jedem Hören steht man wieder an jener imaginären Schwelle, die die Wirklichkeit von der Möglichkeit trennt, hellwach, ohne in besänftigenden Gefühlen zu versinken. Beide erklärten sie das Private zum Politischen, oder besser: Sie wurden politischer als jeder «Street Fighting Man», alle «Masters Of War», weil sie über die Werbespots im Fernsehen, die sinnlosen Informationen im Radio oder die seltsamen Gestalten auf der Strasse rappten, beide wurden sie zeitlos, weil Wut, Aggression und Arroganz mehr Energie freisetzen als alle Versöhnungs- und Liebeslieder. Fünf Jahre später, 1970, verkündeten die Rolling Stones «You Can’t Always Get What You Want», von Bach-Chor und Horn bestärkt, und Bob Dylan sang «If Not For You», von Al Kooper an der Hammondorgel untermalt, der schon bei «Like A Rolling Stone» den Sound zusammenhielt. Grossartig aufgeblasen das eine und schlicht grossartig das andere, aber bereits ohne jene Dringlichkeit, mit der sich bei «Satisfaction» und bei «Like A Rolling Stone» ein Gefühl seine Sprache und ein Inhalt seine Form suchten, um nicht Amok zu laufen.

Vierzig Jahre später erscheinen die beiden ewigen Klassiker wie grandiose Plastiken im Museumsgarten. Wer ins Freie tritt und sie sieht, ist ergriffen und begeistert, aber es kommen nicht mehr viele vorbei. Die meisten schlendern durch die wechselnden aktuellen Ausstellungen, vorbei an Madonna, Coldplay, Black Eyed Peas oder Green Day, werfen einen Blick auf die alten Meister Brian Wilson oder Elton John und spenden am Ende ein paar Münzen in die Sammelbox für gute Zwecke. Vorschriften und Regeln macht keiner, und Vorwürfe wegen erwiesener Geschmacksvergehen sind nicht mehr üblich.

Man könnte sich ein bisschen unbefriedigt, allein und verlassen vorkommen in all dieser Freiheit.

Bob Dylan spielt am Sonntag, 13. November, im Hallenstadion Zürich.

Konrad Heidkamp ist Feuilletonredaktor der Zeit.

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