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Für mich verblüffend und interessant, wie unterschiedlich Chet Baker – insbesondere als Sänger – hier wahrgenommen wird. Kaum weniger verblüffend, wie unterschiedlich der junge Chet und der alte Chet hier bewertet werden. Ich selbst kenne mich nicht besonders aus, entdecke das erst und habe mir inzwischen auch ein paar Aufnahmen aus den 70ern und 80ern angehört. Egal, ob 50er, 60er, 70er oder 80er: Chet ist immer Chet, es gibt bei ihm offenbar keine wesentliche stilistische Entwicklung. Qualität und Niveau seiner Aufnahmen ist aber offenbar sehr von seiner jeweiligen Tagesform und der seiner musikalischen Begleiter abhängig. Aber auch und gerade in Europa hat er offenbar immer wieder mit großartigen Musikern gespielt, die in zu Höchstleistungen motivierten. Und bei aller Konstanz seiner stilistischen Mittel und seines Repertoires ist nicht zu überhören, dass er mit zunehmenden Alter künstlerisch reifte und trotz nicht zu übersehenden körperlichen Verfalls bis zum Schluss künstlerisch erstklassig war.
Ob die 70er und 80er in Europa für ihn als Menschen gute Zeiten waren? Keine Ahnung, ich habe keine Chet-Baker-Biografie gelesen und wer kann da schon in ihn reinschauen? Aber dieses unstete Zigeunerleben zwischen Hotelzimmern, nächtlichen Autofahrten, Auftritten und zahllosen Aufnahmen für obskure Labels scheint für ihn zumindest funktioniert zu haben – solange sein Körper mit den Substanzen versorgt wurde, die er brauchte, und dieser Belastung standhielt.
Weiter mit meinem zigeunerhaften Vagabundieren in der Chet Baker-Diskografie. Nur kurz streifen möchte ich
Chet Baker – It Could Happen To You (1958)
Chet Baker Sings Vol. 2, wenn man so will, hier aber an der East Coast. Fingernägel auf Wandtafel für den einen, behaglicher Wohlklang für den anderen und für manch einen sogar unterkühlte Erotik. Das Cover verlangt dem Betrachter aus heutiger Sicht schon sehr viel postmoderne Ironie ab. Da wird Chet tatsächlich das Image des Jazzmusikers, mit dem auch Mittelklassetöchter ausgehen dürfen, aufgepfropft. Ich möchte in diesem Setting nicht mit ihm tauschen. Da sind die Fotos von William Claxton schon was anderes.
Ein paar Jahre vorher war Chet Baker nicht an der East Coast unterwegs, sondern in Frankreich, wo er innerhalb etwa eines halben Jahres mehrere Sessions in verschiedenen Besetzungen für das französische Barclay Label aufnahm. Man kann diese Aufnahmen in verschiedenen Kopplungen komplett erwerben. Einige Höhepunkte davon sind auf dieser Compilation versammelt.
Chet Baker – In Paris: Barclay Sessions 1955-1956
Diese Platte hat mir nach nicht mal zwei Takten den Atem verschlagen: Vier Töne auf dem Bass, ein Piano-Akkord und Besen auf der Snare und dann setzt Chet mit einem Ton auf der Trompete an, der alles andere im Raum schlagartig verstummen lässt. Alone Together unendlich gelassen und langsam, ja träge gespielt, mit einem absoluten Minimum an Mitteln, aber so warm und weich und klar, dass Chet Baker und seine Band mich sofort haben.
Das klingt nicht so lebhaft und spontan wie auf Chet is Back, sondern in dieser understateten Art eher eingeübt, aber kein bisschen weniger gefühlvoll. Die Band zieht auf dieser Compi das Tempo auch mal etwas etwas an, bleibt aber minimalistisch – mit Ausnahme von vier ebenfalls ausgezeichneten Aufnahmen, die unter Chet Baker & His Orchestra firmieren. Ein Oktett, das an das Gerry Mulligan Tentett erinnert. Und dann ist da auch noch ein Stück mit dem eigenartigen Titel Tasty Pudding, bei dem das Quartet ohne Schlagzeuger spielt, dafür aber mit einem Tenorsaxofonisten namens Jean-Claude Chautemps. Abschließend Everything Happens To Me mit Chet als Sänger. Beides ganz delikat.
Chet Baker scheint als amerikanischer Expatriate in Europa zu großer Form aufzulaufen. Seine Begleiter sind fast durchgängig mir unbekannte Franzosen und Belgier, von denen mir gerade mal René Urtreger und Francy Boland vom Namen her bekannt sind. Aber die scheinen sich alle bestens zu verstehen.
Ganz großartiges Album – als Vergleich fällt mir am ehesten Miles‘ Ascenseur pour l’échafaud ein, das aber erst 1958 aufgenommen wurde – wenn auch mit einem sehr tragischen Beigeschmack, der schon damals auf die Tragik in Chet Bakers Leben hindeutet: Der Pianist von Chet Bakers damaligen amerikanischen Quartet Dick Tzwardzik setzte sich nur wenige Tage nach der ersten Session für Barclay in einem Hotelzimmer mit gerade mal 24 Jahren den Goldenen Schuss.
zuletzt geändert von friedrich--
„Etwas ist da, was jenseits der Bedeutung der Worte, ihrer Form und selbst des Stils der Ausführung liegt: etwas, was direkt der Körper des Sängers ist, und mit ein- und derselben Bewegung aus der Tiefe der Stimmhöhlen, der Muskeln, der Schleimhäute, der Knorpel einem zu Ohren kommt, als wenn ein und dieselbe Haut das innere Fleisch des Ausführenden und die Musik, die er singt, überspannen würde.“ (Roland Barthes: Die Rauheit der Stimme)