Re: Otis´ 7" Faves

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otis
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? (Question Mark) & The Mysterians: 96 Tears / Midnight Hour 1966 D-Ariola

Es gibt nur ganz wenige Songs, die trotz ihrer Einfachheit, wenn nicht gar Primitivität, so bestechend und bezwingend sind wie 96 Tears, die also in der kleinen, aber feinen Champions League der most archaic and simplest songs ever wie Louie Louie, Wild Thing, You Really Got Me, Rumble, Wooly Bully und … (was noch?) mitspielen dürfen. Ohne Frage gehören diese 96 Tears gehört dazu.
Es waren einige z.T. noch minderjährige Burschen aus Mexiko, die 1966 mit dieser genialen Platte zunächst die Gegend um Chicago, dann Amerika, dann den Rest der Welt eroberten. Der Sänger nannte sich „?“, die anderen hatten einen richtigen Namen. Aber diese möglicherweise medienwirksame Kuriosität hätten sie gar nicht nötig gehabt, denn die Platte wäre unter jedem Bandnamen ein Hit geworden. Im Grunde wird hier nur eine sehr einfache, kleine Trennungsgeschichte erzählt, dies aber in einer unglaublich coolen Verpackung. Was ist das Besondere? Zum einen ist da diese extrem einfache, geradezu stoische Orgel mit ihren Achteln und etwas unbeholfen wirkenden melodischen Figuren, zum anderen der Sprechgesang, der in seiner unnachahmlichen Art mehr Emotionen rüberbringt als viele Groß-Crooner dieser Welt. Grandios.
Midnight Hour (kein Cover!) geht einen ähnlichen Weg, ist aber bei weitem nicht so zwingend.
(·) Das dt. Sleeve macht nicht viel her, also kann man sich auch mit dem US-Original begnügen. Nicht sonderlich teuer.


Mink De Ville : Spanish Stroll / Mixed Up, Shook Up Girl 1977 D-Capitol

Soo weit ist Spanish Stroll musikalisch gar nicht von 96 Tears entfernt. Wieder ein ganz feiner Sprechgesang und eine Backing Band, die sich in häufigen Wiederholungen kleiner musikalischer Floskeln ergeht. Aber das Thema ist hier ein ganz anderes, wie zugeschnitten auf Willy de Ville: der Latin-Lover auf der Pirsch. Nein, es sind mehrere davon, Willy schlüpft gesanglich in drei Rollen und meistert sie bravourös.
Musikalisch begeistern (neben den gerade aufgezählten Feinheiten natürlich) zudem die Background-Damen mit ihrem „uuuh huhu hu hu hu“ und der Höhepunkt, wenn Willy anfängt den mexikanischen Grande zu geben und auf Spanisch seine Rosita anspricht.
Dies war die erste Single von Mink De Ville aus New York, in der Hochzeit des Punk herausgekommen und irgendwie auch eine Zeitlang unter dem Stichwort Punk verkauft damals. Aber die Jungs machten natürlich alles andere als Punk, sondern R&B, Soul, Rock´n Roll etc. mit einem Schuss New Orleans.
Tolle Platte, ein Klassiker.
(·) Relativ leicht zu bekommen.


Bobbie Gentry: Ode To Billy Joe / Mississippi Delta 1967 D-Capitol

Im Grunde ist es natürlich nicht die Geschichte von Billy Joe, dem Jungen, der von der Tallahatchie Bridge springt, die hier erzählt wird. Nein, vielmehr tut sich hinter dieser kleinen Story ein ganzer Kosmos von menschlichem Alltag auf. Die Anlage des Songs und die fein ausgearbeiteten und sehr authentisch wirkenden Beobachtungen sind allergrößtes Songwriting. Ich will das hier nicht bis ins Detail ausführen, aber es ist schlichtweg grandios und unglaublich berührend, wie Bobbie Gentry diese Mischung aus Unbeteiligtsein und Verlust textlich und musikalisch darstellt.
Die erschütternde Nachricht vom Selbstmord des jungen Billy Joe landet wie nebenher auf dem Mittagstisch einer typisch kleinbürgerlichen Familie, dessen Tochter Billy Joe so gut kannte. Unmöglich, den Suizid zu verstehen, kommen ihr als Erzählerin Erinnerungen an Billy Joe in den Sinn wie “Billy Joe put a frog down my back at the Carroll County picture show and wasn’t I talkin‘ to him after church last Sunday night?” Doch der Idiot springt von der Brücke!!! Und die Familie ergeht sich in Allerwelts-Talk, obwohl sie doch wissen könnte, dass die Tochter und Billy Joe…
Bobbie Gentry trägt diese Geschichte beinahe unbeteiligt vor, so wie auch am Mittagstisch nichts von ihrem Verhältnis zu Billy Joe offenbar wird. Sie vermeidet bewusst jede emotionale Regung in der Stimme. Nur ganz dezent, dafür um so eindrucksvoller, deutet sie den Song aus; so, wenn sie am Ende jeder Strophe ganz nahe ans Mikro kommt. Sie begleitet sich auf der akustischen Gitarre mit leicht synkopierten Akkorden, was dem Song eine untergründige Unruhe verleiht. Gleichzeitig werden entscheidende Stellen von Streichern mit punktuellen und sehr zurückhaltenden Einsätzen effektvoll kommentiert. Schlichtweg genial das alles.
Greil Marcus wies daraufhin, dass Dylan in der Clothesline-Saga (Basement-Tapes) die Idee dieses Songs aufnahm und etwas ähnliches Eigenes daraus machte. So sehr ich den Dylan-Song mag, aber im Vergleich hiermit ist er eher sarkastisch und kommt an die fundamentale Tragik von Ode To Billy Joe nicht heran.
M-I-double S-I-double P-I. Es swamp-rockt ziemlich auf der Rückseite der Single, sie ist das musikalische Gegenteil von Ode To Billy Joe und dennoch von der musikalischen Klasse her der A-Seite fast ebenbürtig.
Tolle Flip, „inkommensurable“ A-Seite, ganz klar in den Top 100.
(·) Die Platte war ein Hit und wird häufiger angeboten.

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