Re: Bluegrass

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The Horst of all Horsts

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Dickel Brothers – Volume One

Das schwer auf Retro getrimmte Cover-Foto und der Bandname rufen natürlich sofort Assoziationen an die Blütezeit des Bluegrass hervor. Man debkt unweigerlich an die Stanley Brothers und andere, schon durch den Namen erkennbar, verwandschaftlich verknüpfte Gruppierungen.
Alles Lüge! Alles Fälschung! Das Album stammt aus dem Jahr 1999, keines der Bandmitglieder heißt mit Nachnamen Dickel, und sie sind untereinander so eng verwandt wie Walker Brothers und Blues Brothers. Da jeder Bericht über die Dickel Brothers mit dem Verweis Punk aufwartet, soll er auch hier nicht fehlen. Hauptsächlicher Grund dafür dürfte die Tatsache sein, dass ihr Debüt bei einem kleinen Punk-Label aus Seattle veröffentlicht wurde. Wer sich aufgrund dieser Referenz eine Bluegrass-Destruktion erwartet, dürfte ebenso enttäuscht werden wie Bluegrass-Puristen. Eine gewisse Punk-Attitüde kann man nicht abstreiten, aber die Dickel Brothers gehen mit ihre Bluegrass-Adaption nicht einmal halb so weit wie die Pogues in der Relation zum Irish Folk. Und damit Schluss mit den Analogien.
Dass die Dickel Brothers kein Fun-Projekt á la Hayseed Dixie sind, zeigt sich schon in der Songauswahl mit dem Fokus auf noch nicht totgenudelte Traditionals, neben gerade zwei Eigenkompositionen, die sich nahtlos einreihen in den Stil der Band, den man am Besten so umschreiben kann:
“A guitar plunks out a rhythm
A fiddle scratches out a tune
A banjo bubbles over with its rolling notes
and
A bass thumps like the beater of a loom weaving the rug on which the players play.”

Mangelndes instrumentales Können sollte man den Bandmitgliedern nicht unterstellen, aber es ist kein zur Schau gestelltes Virtuosentum – filigranes Picking ist nicht ihr Ding. Das Ganze hat einen DIY-Charakter – und damit bin ich doch wieder beim Punk gelandet. Oder auch bei ganzen anderen Bands. Bei „House Of Carpenter” fühle ich mich spontan an Velvet Underground erinnert: die Dickel Brothers türmen mit ihren Saiteninstrumenten eine Wall Of Schrammel auf. Angeführt von einer kratzigen Fiddle entwickelt der Song einen Sog, dem man sich nur schwer entziehen kann. Obwohl formal alles dem Bluegrass-Idiom entspricht, habe ich so etwas in diesem Genre noch nicht gehört. Wie im übrigen die meisten Songs nicht vordergründig catchy sind, bohren sie sich mit der Zeit hartnäckig fest.
Der Gesang ist kein kontrastreicher Wechselgesang in Bariton- und Tenorlage á la Seldom Scene, sondern ist klassischer kratziger mehrstimmiger Gesang mit Lead und Background Vocals, immer leicht gegeneinander versetzt, wenn auch nicht so extrem und ruppig wie bei der Old Crow Medicine Show. Der Wiedererkennungswert ist jedenfalls gegeben.
Alles Lüge? Alles Fälschung? Ganz sicher nicht. Die Dickel Brothers spielen traditionellen Bluegrass mit Rocksozialisation im Hinterkopf, als Einstieg zusammen mit der Old Crow Medicine Show und den Bad Livers absolut empfehlenswert. Mag die Medicine Show vielleicht die besseren Songs, die Bad Livers den abwechslungsreicheren Sound haben, ätzender und gehirnwindungsdurchdringender sind ganz klar die Dickel Brothers.
Die Vinyl-Edition enthält im Übrigen noch zwei zusätzliche Tracks, worauf im CD-Booklet auch überdeutlich hingewiesen wird.

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What's a sweetheart like me doing in a dump like this?