Re: The Rolling Stones – Dirty Work

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wahr

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The Rolling Stones – Dirty Work (1986)

Mann, Mann, Mann, es war echt ein verdammtes Stück harte Arbeit. „Dirty Work“ verbreitete erstmal sehr lange sehr schlechte Laune. Das musste nichts heißen, ich habe weiß Gott wieviele Platten im Schrank, die schlechte Laune verbreiten. Einige der besten Platten verbreiten schlechte Laune, aber die schlechte Laune, die „Dirty Work“ verbreitete, war irgendwie keine gute schlechte Laune. Es gab entsprechend Versionen dieses Textes, die haben kein gutes Haar an „Dirty Work“ gelassen, sprachen von schwachen Songideen, erstbesten Arrangements, hölzernen Achtziger-Sounds, Jagger als verkrampftem Dampfsänger …

Aber dann hat’s mich doch gepackt. Das uralte und ehrenwerte Handwerk des Schönhörens, bei „Dirty Work“ kam es wieder zum Tragen. Die dreckige Arbeit, auf die der Albumtitel zielt, muss man nämlich erstmal selbst investieren, um sich Zugang zur Drecksarbeit der damaligen Stones zu verschaffen. Ich bin aber ganz gut darin, mir miese Platten zurecht zu hören. Ich brauchte bestimmt anderthalb dutzend Durchläufe, ich glaube sogar, ich habe die Platte in letzter Zeit öfter gehört, als sie in den letzen vier Wochen in ganz Deutschland insgesamt gehört wurde. Aber was soll ich sagen? Ich weiß nun, was ich an ihr habe. Ich habe eine nicht um Zustimmung bettelnde Äußerung einer Band während eines bestimmten Zeitabschnitts, zu bestimmten Bedingungen und im Rahmen von Zuständen bestimmter persönlichen Beziehungen. Und das ist mehr als ich von „Tattoo You“ habe, dieser teilweise etwas leblosen Parade aufgehübschter Archiv-Tonbänder.

1.One Hit (To The Body) ****
Der erste Satz deutet schon an. dass da was passiert sein muss: “You fell out of the clear blue sky/ To the darkness below“. Die gute Laune vor blauem Himmel fünf Jahre zuvor auf „Emotional Rescue“ verwandelte sich auf „Dirty Work“ zu einem angegrimmten Hardrock-ähnlichen Gereibe.

2.Fight ****
Die Deppen, die die offizielle Stones-Site betreiben, haben es bis heute nicht gebacken bekommen, dass „Fight“ nicht „Street Fighting Man“ ist. Nach wie vor wird daher „Street Fighting Man“ als Songsnippet für „Dirty Work“ eingebunden. Vielleicht ein Zeichen, dass selbst von offizieller Seite kein großer Wert auf das Album gelegt wird? Das müssen die Stones-Analysten ohne mich ausdiskutieren. Falls es im weiten Feld des Listenterrors übrigens auch eine Rubrik mit den verunglücktesten Gesangsfüllseln geben sollte, dann wäre Jaggers klägliches „Hey Baby!“ nach dem Song-Intro ein Anwärter auf einen vorderen Platz. Es ist nämlich Jaggers schlimmstes „Hey Baby!“ seiner bisherigen Karriere. Aber diese Zehntelsekunde kann „Fight“ dann doch nichts anhaben. Gegenüber „One Hit (To The Body)“ wird nochmal der Abrasionsregler aufgedreht, der Keith und der Ron legen eine weitere Schippe Grimm drauf, und würde nicht „Harlem Shuffle“ im Anschluss einen soliden Stabilitätspfeiler in das Album pflocken, hätten sie schließlich mit „Hold Back“ soviel Grimm aufgeschippt, dass die Platte unter ihrem Eigengewicht zusammengebrochen wäre.

3.Harlem Shuffle ***1/2
Gibt notwendigen Halt für die Entsetzten, die doch noch an eine heile und groovige Stones-Welt glauben. Es gibt aber bessere Coverversionen der Stones. Ist nicht schlecht, der Song trägt sich auch in dieser Version, macht aber einen etwas braven Eindruck inmitten der rauen Atmosphäre um ihn herum.

4.Hold Back ***1/2
Hingeschlunzt-, -geknallt, -geschrien. Viel Text, der abgearbeitet werden musste. „Hold Back“ nimmt jede Idee wie sie kommt und überlegt nicht lange, ob vielleicht noch bessere kommen (kamen sowieso nicht). „Hold Back“ hat eine gewisse stumpfe Hässlichkeit, die ich mag. Es kann nämlich weder nur immer alles schön noch gut noch abwechslungsreich sein. So ist nicht das Leben, so ist nicht die Kunst, so ist nicht der kreative Prozess. Vielleicht der naheste Punkt, den die Stones dem Terminus „Hard Rock“ je gekommen sind. Ich denke, ich brauchte dreißig Durchläufe, bis ich die Stringenz des Tracks heraushören und umgekehrt die 80er-Synthies aus meinem inneren Ohr herausfiltern konnte.

5.Too Rude ****
Wieder so ein grundsympathischer Amateur-Reggae. Jede Reggae-Band, die auf Jamaika in Hotelbars auf Zuruf spielt, würde sie mit verbundenen Augen in Grund und Boden grooven. Nach anfänglich ungläubigem Staunen über den kruden Versuch, eine Art Dub-Schlagzeug zu spielen, konnte ich mich dann aber doch nicht mehr wehren. Die Bewertung setzt sich wie folgt zusammen: Richards und Reggae ergibt schon mal vorab je einen Stern. Ron Wood klingt knallig und charmant am Schlagzeug. Daher auch dafür einen Stern. Und dann noch einer für den Spaß, den mir diese Reggae-Ausflüge der Stones immer wieder machen.

6.Winning Ugly ****
Gerechte Abrechnung mit Yuppies, die in den 80ern unverblümt ihre eigene Rücksichtslosigkeit feierten, unterstützt von den Reagans und Thatchers, die tatkräftig mit der Deregulierung der Märkte den gesellschaftlich geschaffenen Reichtum weiter in Richtung der Gusituierten steuerten. Später hat Jagger dann mit „Sweet Neo Con“ eine Fortsetzung geschrieben. Als Song kam mir „Winning Ugly“ irgendwie grottig und holperig vor, bis mir der Refrain im Schlaf erschien. Jetzt höre ich ein gutes Stück galoppierenden Rhythm & Blues-Chaos, für dessen Genuss man allerdings irgendwie heraushaben muss, seine Geschmackspapillen für gruselige 80er-Jahre-Synthies unempfindlich zu machen. Klappt nur dann, wenn man es wirklich will.

7.Back To Zero ***1/2
Schwächstes Arrangement der gesamten Platte, eben mit Mitt-8oer-Zeitkolorit, aber schöne Orgel, angefunkt und guter Bridge („It’s a monkey living on my back …“). Überhaupt doch eigentlich ganz schön umgesetzt. Man muss sich ein wenig durch die vintage Produktion durchkämpfen, aber darunter verbirgt sich ein Funk-Stück, das nicht so viel schlechter ist als „Hot Stuff“. Auch zum Ende hin nochmal gut, weil remixmäßig angedubbt.

8.Dirty Work ****
Wieder ein ruffer Klopfer, der mir Spaß macht. Ich kann von den persönlichen Schwierigkeiten, die die Platte begleiteten, sowieso immer weniger heraushören, je öfter ich die Platte höre. Dass Jagger auf dem gesamten Album keine Gitarre spielt, ist zwar schade, schafft aber diesen rauen Charme, für die dann wohl großenteils die beiden Verschränkungskumpel Richards/Wood verantwortlich zeichnen. Mir sind diese Stücke allemal lieber als immer nur die 70er-„Großtaten“ abzufeiern. Denn unter uns: „Sticky Fingers“ hat auch so seine Schwachpunkte, selbst dort, wo ich sie früher eigentlich nicht vermutet habe, wie mir kürzlich ein Hördurchgang nach längerer Abstinenz verdeutlichte.

9.Had It With You ****1/2
Auf „Had It With You“ scheint es durch: Man hätte aus „Dirty Work“ ein Monster machen können. Vollendet trockener und dünner, trotzdem packender Sound. Das meinte ich an anderer Stelle mit Produktions- und Soundideen, die einen traditionellen Rhythm&Blues zu was Besonderem machen. Produktionstechnisch vielleicht die beste Leistung der Platte. Würde selbst auf EOMS ein Pluspunkt sein, klingt im Prinzip ja auch wie „Shake Your Hips“.

10.Sleep Tonight ****
Ganz schöner balladesker Abschluss mit Richards am Mikro. Er soll ja bei der Arbeit an Dirty Work viel am Gesang trainiert haben, was man hier durchaus auch hört.

Fazit: „Dirty Work“ ist vermintes Terrain, ich würd‘s niemandem empfehlen, der seine Stones-Welt um wohlgeordnete, sorgfältig arrangierte und komponierte Songs von – ich sach ma – „Sticky Fingers“ herum aufgebaut hat. Richards und Wood haben schöne Gelegenheiten konzipiert, um ihre Gitarren kumpelmäßig und krachig reinzuschrängen, ohne nur auf Spaß aus zu sein. Man merkt ihnen auch durchaus an, dass gar nicht alles so hingerotzt ist, wie es bei den ersten Hördurchgängen den Anschein hatte. Steve Lillywhite produziert Mitt-80er-Zeit-gemäß mit Bollerdrums und Dünn-Synthie, wenn‘s sein muss. Und Jagger? Singt, schreit, krächzt, poltert, drückt wie nie zuvor. Tolle miese Platte. Ich gebe „Dirty Work“ 4 Sterne, weil ich in der Hinsicht ein bisschen irre bin. ****