Re: Rammstein

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skraggy

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Rammstein – Reise, Reise

Ich habe es in diesem Thread bereits geschrieben. Eigentlich hatte ich Rammstein für mich abgeschrieben. Konnte ich ihren Songs eigentlich immer etwas abgewinnen, gingen mir ihre sexgeilen Texte irgendwann mächtig auf den Sack. Aus diesem Grund habe ich mich nach Sehnsucht nicht mehr großartig um die Band gekümmert. Nachdem die liebe Mongolom hier allerdings dermaßen leidenschaftlich den Versuch unternommen hat, dem Forum Rammstein näher zu bringen, war meine Aufmerksamkeit geweckt. Angeregt durch einige von Mongolom bereitgestellte Hörproben – danke nochmal! :) – habe ich mich entgegen meiner von mir eigentlich als feststehend empfundenen Meinung über die Band dazu entschlossen, das neue Album zu kaufen. Und was soll ich sagen? Ich bin positiv überrascht. Die Scheibe ist richtig gut. Rammstein sind offener, songorientierter geworden. Wo früher fast druchgängig die Riffs regierten beweisen sie heute Mut zur Lücke, was der Atmosphäre einiger Songs zugute kommt.
Das Album beginnt mit dem wirklich schönen Titelsong, dessen erhebender Refrain mich seit einiger Zeit nicht mehr loslässt. Zwar habe ich überhaupt keine Ahnung, was mir Herr Lindemann mit dieser Ode an speerschwingende Seefahrer mitteilen will, aber was soll’s. Ich muss ja nicht alles verstehen. Putzig ist allerdings, dass er gleich am Ende der ersten Strophe vergisst, sein R zu rrrollen. Das muss einem Produzenten doch auffallen. Befindet man sich nach diesem eher verhaltenen Auftakt noch in einer melancholischen Stimmung ziehen Rammstein einem anschließend mit „Mein Teil“ in gewohnter Weise die Keule über den Schädel. So kennt/liebt/hasst man die Band. Über den Text ist ja schon ausreichend diskutiert worden. Es ist sicherlich nicht unproblematisch wenn sich eine Band einem der absoluten Tabus unserer Kultur aus der Täterperspektive nähert. Prinzipiell finde ich den Text und dessen Umsetzung gelungen, aber spätestens wenn ich das Thema Kannibalismus durch das Thema Kindesmissbrauch ersetze und mir vorstelle ich müsste mir einen Song anhören, in dem aus der Täterperspektive der Missbrauch beschrieben wird komme ich schon ins Grübeln. Schwieriges Thema. Es folgen „Dalai Lama“ und „Keine Lust“. Beides Songs, die mir gut gefallen, aber dem Rammstein’schen Kosmos keine neuen Akzente hinzufügen. Anders ist dies bei „Los“. Hey, Rammstein goes unplugged. Eigentlich ein für die Band typischer Song mit straightem Beat und simpel-effektivem Riff. Zur Abwechslung wird hier halt lediglich die Akustikgitarre geschrubbt und das ganze mit Mundharmonikaeinsatz garniert. In Verbindung mit dem humorvollen, die öffentliche Debatte um Rammstein behandelnden Text sorgt diese Kombination aber dafür, dass ich mir immer wieder ein Grinsen nicht verkneifen kann.
Wo der Autor der entsprechenden Kritik im Stone bei der Nummer allerdings Funk gehört haben will, raffe ich bis heute nicht. Ist schon scheiße, wenn man etwas gezielt schlechtschreiben will und einem außer dem nicht sonderlich originellen Runterbeten altbekannter Klischees keine passenden Argumente einfallen. Na ja, bevor er der Band lediglich auf unoriginelle Weise mangelnde Originalität unterstellt, wollte er sich wohl etwas kreatives aus den Fingern saugen. Egal, auf Überraschung Nummer 1 folgt Überraschung Nummer 2. Rammstein werden politisch. Das hätte ich nun wirklich nicht erwartet. Erfreulicherweise vermeidet es die Band mit „Amerika“ all zu plakativ vorzugehen und wählt den Weg der Ironie. Bei dem Gedanken an den ein oder anderen US-Fan, der bei einem Rammsteinkonzert voller Begeisterung „We’re all living in Amerika“ mitgröhlt kann ich mir ein Grinsen nicht verkneifen. Es gab in den letzten Monaten sicherlich genug Statements anderer Musiker die wesentlich platter daherkamen. Der Song selbst ist trotz aller Breitwandgitarren perfekter Pop und schlägt in Sachen Ohrwurmqualität das ohnehin schon mega-eingängige „Engel“ um Längen. Nach diesen zwei Highlights ist das folgende „Morgenstern“ wieder ein typischer Albumsong. Textlich und musikalisch wandelt die Band hier auf gewohnten Pfaden. Interessant wird es wieder mit dem abschließenden Trio „Stein um Stein“, „Ohne dich“ und „Amour“. Bietet „Stein um Stein“ trotz seiner balladesken ersten Hälfte noch recht konventionelle Kost, sorgt der Song in Verbindung mit „Ohne dich“ für den größten Lacher des Albums. Wie Mongolom schon richtig bemerkte, was mauert Lindemann seine Angebetete auch ein, wenn er ihr einen Song später in „Ohne dich“ 5 Minuten am Stück hinterherheult. „Ohne dich“ ist nun eine weitere Überraschung auf „Reise, Reise“. Lindemann lässt den Teutonen für einen Song im Schrank und liefert eine wirklich unter die Haut gehende Vorstellung ab. Manche mögen es kitschig finden, ich finde es klasse. Wirklich schöner Song, der bei mir immer wieder für Gänsehaut sorgt. Eigentlich wäre die Nummer ein guter Schlusspunkt gewesen, aber Rammstein wollten anscheinend noch der Liebe huldigen. Abgesehen vom knackigen Ende ist „Amour“ lupenreiner Pop. Steht den Herren gar nicht schlecht.
Wie eingangs bereits erwähnt, bin ich von „Reise, Reise“ äußerst positiv überrascht. Das Album hinterlässt allein schon deswegen keinen schlechten Eindruck bei mir, weil die von mir so verpönten pubertären Ferkeltexte zum größten Teil der Vergangenheit angehören zu scheinen. Es ist Rammstein gelungen, aus ihren wohl inzwischen ein wenig eng gewordenen musikalischen Grenzen auszubrechen. Natürlich erwartet den Hörer keine musikalische bzw. stilistische Revolution. Aber allein die Tatsache, dass einige Songs schlanker arrangiert bzw. produziert sind, nicht mehr primär der Vorschlaghammer regiert und auch verstärkt ruhigere Töne zum Zuge kommen offenbart, dass Rammstein über ein bemerkenswertes Gespür für eingängige Melodien verfügen. Ich bin gespannt, ob die Band den auf diesem Album eingeschlagenen Weg weiter verfolgt. Ich würde es mir wünschen, denn „Reise, Reise“ hat mich überzeugt. Ich werde Rammstein zukünftig wieder im Auge behalten.

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