Re: Rahsaan Roland Kirk

#2004275  | PERMALINK

dougsahm
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Reinkopiert, was vor vielen Jahren Karl Bruckmaier zu ihm schrieb. Was will man noch mehr dazu schreiben ?

Ronald Theodore Kirk. Geboren am 7. August 1935 in Columbus, Ohio. Gestorben am 5. Dezember 1977 auf der Fahrt zu einem Gig. Ronald wurde mit einer Sehschwäche geboren, die im Alter von zwei Jahren durch eine ungeschickte Krankenschwester zur Blindheit wurde. Ronald vertraute daher von Kindesbeinen an den Tönen – und mehr noch, den Bildern und Geräuschen in seinem Kopf, seinen akustischen Visionen, seinen Träumen. Niemand sah in ihm einen großen Saxophonisten, als er mit sechs wie besessen in einen Gartenschlauch hineinblies oder mit neun der stolze Signalhornbläser in einem Sommerlager war. Zu der Zeit begann er mit Klarinettenunterricht, dann kam das Tenorsaxophon, das er mit 12 so gut spielte, daß er im Schulorchester mitmachen durfte. Mit 15 war Ronald professioneller Musiker in Chicago – professionell, das will nicht viel heißen: ein blinder schwarzer Bub, der manchmal bei Gigs dabei war, meist aber auf der Straße vor der Absteige spielte, wo er auch wohnte. Dort hat ihn der deutsche Jazzexperte Joachim Ernst Berendt zum ersten Mal gesehen und gehört. Warum ist er Berendt aufgefallen?

Er spielte auf drei Instrumenten gleichzeitig: Tenor, Manzello und Strich. Ronald war ein verdammter Ein-Mann-Holzbläser-Satz… Tenorsaxophon, Manzello und Strich, Querflöte und Polizeipfeife: Mit THREE FOR THE FESTIVAL, einer seiner ersten Aufnahmen, eröffnete Kirk fast all seine Konzerte – damit gleich mal klar war, was der Hochseilartist so alles drauf hatte. Manzello und Strich sind Vorläufer des heutigen Saxophons, die in spanischen und mexikanischen Blaskapellen des vorigen Jahrhunderts Verwendung fanden. Kirk entdeckte sie im Keller einer Musikalienhandlung, die ihm diesen alten Ramsch günstig überließen. Die alten Krummhörner blieben sein Markenzeichen ein Leben lang, obwohl Kirk speziell als Flötist seine größte Außenwirkung hatte – soll heißen: die Epigonen sind bekannter geworden als der Erfinder neuer Spielweisen selbst. Soll z.B. heißen: Wer Ronald Kirk hört, weiß, wo Ian Anderson von Jethro Tull die Idee für seinen einbeinigen Teufelsflöter her hatte.

Ronalds Lehrjahre waren kurz. Er spielte auf den Straßen, in Jazz Clubs, wo er auch mal alte Idole wie Lester Young begleiten durfte, in R&B-Bands. Irgendwann benannte er sich ein erstes Mal um: Ronald verschwand, Roland war geboren: Roland Kirk, der Mann, der so viele Instrumente beherrschte und gleichzeitig spielen konnte, weil er sich eine Zirkularatmungstechnik antrainiert hatte. Roland Kirk, der deswegen lange Zeit als Zirkusnummer abgelehnt wurde, weil es in Jazzkreisen nie allzu hip war, ein guter Entertainer zu sein. Selbst die Giganten wie Louis Armstrong oder Dizzy Gillespie mußten sich als Show-Neger beschimpfen lassen; was wird sich da erst ein praktisch unbekannter Multiinstrumentalist aus der Provinz gefallen lassen haben müssen, der neben seiner Ernsthaftigkeit auch ein Showtalent besaß…

Wenn Roland Kirk spielte, dann spielte er volle Kanne – im wahrsten Wortsinn. Er spielte die Musik, die in seinem Kopf stattfand – auf der Basis der großen schwarzen Musiker, die vor ihm schwarze Musik definiert hatten: Louis Jordan, Sidney Bechet, Lester Young, Charlie Parker. Klar, daß er dadurch ein ungeeigneter Sideman war. Roland Kirk war immer nur Bandleader, niemals Mitmusiker eines berühmteren Kollegen – mit einer halben Ausnahme. In New York gab es um 1960 einen, der schien den gleichen Lärm in seinem Kopf zu hören wie Roland. Und als Roland Kirk mit 24 zu seinen ersten Plattensessions nach New York reiste, ein Niemand, ein Gerücht aus der Provinz, da stellte er sich bei dem berühmten Gesinnungsgenossen vor, beeindruckte diesen durch seinen Sound und die Tatsache, daß er auswendig dessen Kompositionen spielen konnte. Der dicke Choleriker wurde weich und engagierte Roland Kirk für 12 Wochen, in denen auch eine Plattensession für Warner stattfand. Deshalb hören wir Roland Kirk fast alle Saxophonparts auf OH YEAH spielen, der verrückten Bluesplatte von CHARLES MINGUS: HOG CALLIN' BLUES.

Charles Mingus war ein guter Grund nach New York zu kommen, aber der eigentliche Anlaß war eine Session unter eigenem Namen für Mercury Records, für die und für Verve Kirk in den frühen sechziger Jahren am meisten aufnahm. Besonders Quincy Jones hatte ein Ohr für den jungen Multibläser und förderte ihn eine Weile. Allerdings überhörten viele Zeitgenossen, daß die Zirkusnummer Roland Kirk auf der Basis eines voll ausgebildeten und ständig dazulernenden Künstlers Roland Kirk stand. So wundert es nicht, daß vor allem Musiker die verdiente Anerkennung spendeten, weniger Kritiker und reines Jazzpublikum, die gerade eine Phase schwerer Ernsthaftigkeit durchmachten. Aber Kirks Platten verkauften doch immerhin so gut, daß er seinen Stiefel voll durchziehen konnte. Er bot auch für jeden etwas: Artistik, Bearbeitung klassischer Musik, Standards, avantgardistische Klänge, neue Sounds und Effekte, hippen Gesang, wenn es sein mußte, später Studiotricks und Bandzuspielungen, einfach alles.

Hier eine Liste der Pop- und Rockmusiker, die sich direkt auf Roland Kirk beziehen, die mit ihm jammten oder stilistische Anleihen bei ihm machten: Eric Burdon, War, Jethro Tull, Osibisa, Eric Clapton, Frank Zappa, Colosseum, Rip Rig & Panic, Hal Willner.

Im Verlauf der sechziger Jahre veränderte sich der musikalische Schwerpunkt Roland Kirks weg vom reinen Jazzbegriff, hin zur afroamerikanischen Musik, von der Jazz nur ein Teil ist. Bürgerrechtsbewegung, Vietnamkrieg, Straßenschlachten und Polizeibrutalität – das konnte nicht ohne Folgen bleiben auf einen so sensiblen Menschen wie Roland Kirk – und auch nicht auf seine Musik
Da steht er also mit seinen drei Instrumenten im Mund, einem Tenorsaxophon, einem Manzello und dem Strich – er holt Luft, schaltet um auf Zirkularatmung und spielt sich die Seele aus dem Leib, angetrieben von seiner Band, die sich mal aus bekannten Jazzern, mal aus hungrigen R&B-Bösewichten zusammensetzt, spielt den Jazz, den Funk, verneigt sich dreimal gen New Orleans: Roland Kirk.

Roland Kirk, nein, so heißt er nicht mehr: er hat wieder einmal geträumt. Er hatte geträumt, daß sein Name Rahsaan sei, Rahsaan Roland Kirk, dabei blieb es; Rahsaan Roland Kirk definierte seine Musik immer stärker vom reinen Jazz weg, bezog andere schwarze Musiken ein, Afrika, New Orleans, Rhythm & Blues, Funk, Voodoo, Black Nationalism, aber die Basis blieb der Jazz. Da verstand er auch keinen Spaß. So brachte ihm sein Hausproduzent bei Atlantic, Joel Dorn, einmal Musiker einer angesagten Fusionband zu einer Session mit. Nach seiner Gewohnheit ließ er die Jungs erst einmal ein paar Standards spielen, schließlich sagte er NIGHT IN TUNISIA an, aber die Musiker konnten NIGHT IN TUNISIA nicht spielen. Da kriegten sie den Anschiß ihres Lebens.

Überhaupt: Kirk im Studio – gereizt wie ein Wasserbüffel hat er sein können, behaupten seine Produzenten und Toningenieure. Wehe, es lief einmal das Band nicht, wenn er überraschend anfing zu spielen. Wehe, eine Session ging nicht so, wie er das gewohnt war. Da konnte er, neben den musikalischen Parallelen, zum zweiten Charlie Mingus werden. Einmal war er beim zehnten Take einer Nummer angelangt; irgendetwas ging bei jedem Durchgang schief. Da ging er zu jedem Musiker und zum Produzenten und sagte vertraulich: „Ich habe ein privates Gesetz: Mache nie mehr als zehn Takes. Das ist der zehnte Take. Wenn jetzt etwas schief geht, schlage ich euch zusammen.“ Hier Kirk als Charlie-Parker-Interpret…

Die späten sechziger Jahre sind auch die Zeit seiner Sessions mit weißen Popmusikern wie Clapton, Zappa oder Colosseum. Diese lassen sich von dem Zirkusgaul Kirk inspirieren; der bedient sich dafür ganz ungeniert im weißen Melodienfundus, was allerdings einem wie Kirk gleich wieder als Ausverkauf und Kommerzialisierung vorgeworfen wurde. Aber was ist schlecht an HEY JUDE, wenn Jude als Kirk'sche Voodoopuppe daherkommt?

Kirks späte Aufnahmen sind von einer seltsamen Ambivalenz. Einerseits wetterte er bei jeder Gelegenheit gegen Musik, die aus den Maschinen kommt, gegen übermäßige Verstärkung, Synthesizer, E-Pianos, andererseits wurden seine Platten immer eklektisch-technisch-verspielter, Pferde galoppieren durch den Stereoraum, Stimmen überlagern sich, Computer führen fiktive Streitgespräche mit Kirk – das „SGT. PEPPER des Jazz“ nennt einer Kirks Platte THE CASE OF THE 3 SIDED DREAM IN AUDIO COLOR.

1975, mit 39 Jahren, erlitt Kirk einen Schlaganfall. Die Ärzte verboten ihm seinen Lebensstil, Tourneen, gutes Essen. Er sollte wegen Nierenversagens regelmäßig an ein Dialysegerät. Aber Kirk lehnte jegliche ärztliche Einmischung in seine Privatsphäre ab – bewußt, daß der Preis dafür das Leben sein würde.
Zunehmend behindert nahm Roland Kirk weiter Platten auf und tourte. Am 5. Dezember, auf der Fahrt von einem Konzert zum anderen, starb er in Bloomington, Indiana, an Herzversagen.

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