Startseite › Foren › Kulturgut › Print-Pop, Musikbücher und andere Literatur sowie Zeitschriften › Die Drucksachen › Musikbücher › Bob Dylan Chronicles › Re: Bob Dylan Chronicles
Der Mann, der uns nicht erlösen wollte
Bob Dylans fulminante Autobiografie „Chronicles“
Von Michael Werner
Fragte man Joan Baez, sie würde vielleicht antworten: „Ich brauche das Buch nicht zu lesen – ich kenne Bobby gut genug.“ Möglicherweise würde sich Bob Dylans einstige Gefährtin dennoch heimlich einschließen, mit „Chronicles – Volume one“, dem ersten Teil seiner angeblich auf drei Bände angelegten Autobiografie. Vielleicht würde sie sich bestätigt fühlen in ihrer verdächtig offen zur Schau getragenen Gleichgültigkeit Dylan gegenüber. Vielleicht würde sie auch lächeln.
Joan Baez kommt zum ersten Mal in „Chronicles“ vor, nachdem mehr als ein Drittel des überaus humorvoll, uneitel, plastisch und detailliert geschriebenen Werkes schon verschlungen ist. Da widmet ihr Dylan fünf Zeilen. Da hört er einen Protestsong von ihr, in dem sie ihn auffordert, die Massen anzuführen. „Das Lied rief nach mir aus dem Radio wie eine staatliche Bekanntmachung“, schreibt Dylan, der zu dieser Zeit, so ist nun zu lesen, eine Menge Anstrengungen unternahm, um von seinen Verehrern in Frieden gelassen zu werden: Fotos mit der Kippa auf dem Kopf in Jerusalem, dann ein Countryalbum: „Ich benutzte eine andere Stimme.“
Es sind die späten Sechziger, als der Mann, der schon am Anfang des Jahrzehnts vielleicht kurz so was Ähnliches wie einen Achtundsechziger abgegeben hatte, seiner Zeit erneut weit voraus war. Er hatte einen Motorradunfall und längst genug von jeder Form der Führerschaft. Er war jetzt Familienvater und lebte so weit zurückgezogen, wie es einem Mann möglich ist, den die Nachbarn anstarren, „als starrten sie einen Schrumpfkopf an oder eine gigantische Dschungelratte“. Er schreibt lapidar über den geheimnisvollsten Verkehrsunfall der Rockgeschichte: „Ich wurde verletzt, aber ich erholte mich. Die Wahrheit ist, dass ich aus dem ,rat race“ rauswollte.“ Dylan weiter: „Ich hatte sehr wenig gemeinsam und wusste noch weitaus weniger über eine Generation, deren Stimme ich angeblich sein sollte.“ Er zog nach Woodstock, und als ihm die Hippies singend nachreisten, war er nicht da. Dann ausgerechnet Joan Baez im Radio.
Die „Königin der Folksänger“ (Dylan) taucht nochmal auf, da ist das Buch schon fast zu Ende, Dylan noch jung und die Baez ihm noch unbekannt. Er hört nur eine Platte von ihr. „Eine Stimme, die böse Geister austreibt“, schreibt er 45 Jahre später, „es war, als wäre sie von einem anderen Planeten heruntergekommen.“ Sonst nichts über Joan Baez. Und fast nichts über Sara, Dylans erste Ehefrau, außer dass er sie und die Kinder vor Fans beschützen wollte, die sich wie verlassene Jünger auf Entzug benahmen. Ein einziger Satz nur, in dem er für sie wirbt, nicht zwei Seiten wie für Harry Belafonte, nicht acht Seiten wie für den Bluessänger Robert Johnson. Bloß sibyllinisch: „Nach einer Weile kaufte ich eine rote Blume für meine Frau, eines der wunderbarsten Geschöpfe in der Welt der Frauen.“ Auf seinem bisher letzten Album „Love and Theft“ (2001) sang Dylan übrigens: „There ain“t no limit to the amount of trouble women bring“.
Gut siebzig Seiten, knapp zwanzig Jahre nach dem Blumenkauf schreibt Dylan wieder von seiner Ehefrau, ohne auch nur erwähnt zu haben, dass dazwischen die Scheidung von Sara lag. Wieder ein Motorradausflug, Ende der Achtziger. Kellnerin kommt zum Paar: „Ich sah in die Speisekarte, dann sah ich meine Frau an“, notiert Dylan, und dass er an ihr ihr „eigenes, eingebautes Glück“ liebe. Kein Name, nichts. Ein bisschen mehr, aber auch nicht viel über Suze Rotolo, Dylans Village-Freundin Anfang der Sechziger. Die erste Begegnung, poetisch: „Die Luft war plötzlich mit Bananenblättern gefüllt.“ Das Ende, lakonisch: „Sie nahm eine Abzweigung – ich eine andere.“ Es muss demnach eine Zeit gegeben haben, in der der große Versteckspieler noch nicht glaubte, den Frauen und der ganzen Welt Verweigerung zuknurren zu müssen: „It ain“t me, Babe!“.
Nichts schreibt Dylan über die phänomenal erfolgreiche Zeit seiner ersten Platten bis Mitte der Sechziger, kein Wort über seine künstlerisch reichsten Phasen Mitte bis Ende der Siebziger und von 1997 bis jetzt, rein gar nichts über seine öffentliche Hinwendung zum Christentum Ende der Siebziger und die starken Alben Mitte der Achtziger. Auch die Herzbeutelentzündung in den Neunzigern fehlt. Dylan macht in „Chronicles“ genau das, was er seit Jahrzehnten virtuos zelebriert: Der Mann, der Rock spielte, als die Fans Folk wollten, der sich zurückzog, als sie nach einem Führer riefen, der ihnen tief gläubige Gospelsongs servierte, als sie seine künstlerische Wiedergeburt feierten, dieser Mann schert sich auch in seiner Autobiografie nicht im Geringsten um die Erwartungen seines Publikums. Dylan beglückt, womit er will.
Und er will und verknüpft romanhaft furios: als Einstieg hundert Seiten über 1961, sein erstes Jahr in New York, vor der ersten Plattenaufnahme, hernach – unter Auslassung des künstlerisch wie monetär äußerst befriedigenden Ergebnisses des folkklubtingelnden Werbefeldzugs in eigener Sache – knapp fünfzig Seiten Schattenseiten des Erfolgs, Flucht eines Stars in die Versenkung Ende der Sechziger, gleich darauf: zwanzig Seiten Burnout und Schaffenskrise anno 1987, daran anschließend: sechzig Seiten Liederschreiben und Studioproduktion für „Oh Mercy“ (1989), Dylans bis dato fulminanteste künstlerische Wiedergeburt, zuletzt: zurück in die Jugend, auf siebzig Seiten.
Bob Dylans Autobiografie handelt vom Streben nach Erfolg und seinem kräftezehrenden Herumschlagen mit dessen Schattenseiten, von der erneuten Anstrengung und dem Ausgebranntsein, von ewiger Anziehung und Abstoßung, von Anlockung und Verscheuchung auch. Dylan schreibt sozusagen von einem ständigen Wechsel zwischen Vorspiel und Trennungsschmerz, unter bewusster Auslassung des Orgasmus. Ein faustisches Buch ist ihm gelungen – ein faustisches Leben?
„Das Leben ist mehr oder weniger eine Lüge“, schreibt Dylan, der jetzt 63 ist, einmal. Und anderswo stellt er fest, dass es für nichts Garantien gibt, „nicht einmal die Garantie, dass das Leben nicht ein großer Witz ist“. Er erzählt auf lakonische und doch anrührende Weise davon, wie man versuchen kann, daran nicht zu verzweifeln.
„Chronicles“ handelt von den sisyphusartig komponierten Lebensabschnitten des größten aller Songwriter – einerseits. Andererseits handelt „Chronicles“ von allem, weil sich der Meister der Assoziation von hie nach da hangelt wie in einem guten Dylan-Song. Allein die Bücher in der Wohnung des Folkpärchens, bei dem er in New York Quartier bezieht, bevor er sich seine eigenen Möbel zimmert: Albertus Magnus hält der gebildete Musiker für ein Leichtgewicht im Vergleich zu Thukydides. Er schätzt Balzac, Byron und Poe, die Russen sowieso, stellt Freud desinteressiert ins Regal zurück, und Clausewitz“ „Vom Kriege“, schreibt Dylan, „bewirkt, dass du deine eigenen Gedanken ein bisschen weniger ernst nimmst“. Und erst die Musiker: Hank Williams, Woody Guthrie, Roy Orbison, Franz Liszt – welch ein Trost.
Menschen inspirieren ihn, nicht nur deren Werke. Wie in Dylans surrealsten Songs geistern sie durch die Folkcafés des Greenwich Village: Billy the Butcher, „der traurigste Typ von allen“, der nur einen einzigen Song singt und das auch nur dann, wenn das Café Wha? leer ist. Oder Norbert, der Koch, der Geld spart, um nach Verona zu reisen, „ans Grab von Romeo und Julia“. Dylans Großmutter hat den Jungen gelehrt, „freundlich zu sein, weil jeder, den du jemals treffen wirst, in einer harten Schlacht kämpft“.
„Kunst ist unwichtig im Vergleich zum Leben“, schreibt Dylan. Doch was bleibt einem Menschen wie ihm anderes übrig, als sich an ihr zu laben, als sie zu produzieren (auch wenn er Ende der Achtziger erwog, sich stattdessen eine Holzbeinfabrik zuzulegen)? Mit jedem Wort produziert er beglückende Kunst – in seinen Aphorismen, die nun kein Dichter mehr in Reimform zwingt, in seinen Dialogen, die den besten seiner Lieder entstammen könnten.
„Wie kamst du her?“ fragt ihn der PR-Chef der Plattenfirma Columbia. „Ich fuhr mit einem Güterzug.“ „Du meinst einen Passagierzug?“ „Nein, einen Güterzug.“ Ein paar Zeilen weiter schreibt Dylan, dass er gelogen habe. Er reiste mit dem Auto an. Dass er damit an seiner Legende bastelt (weil er so unglaublich gut mit Worten umgeht), während er versucht, sie zu zerstören, indem er das Öl, mit dem ihn andere zum Erlöser gesalbt haben, als schnödes Rasierwasser entlarvt, macht ihn so unentrinnbar groß. Irgendwo vermerkt er, er benutze Klingen von Gillette.
Wenn er eines Tages den Literaturnobelkreis kriegt (und er sollte ihn bekommen, unbedingt), dann wird man ihn für seine meisterhaft verfassten Ein-bis-vier-Zeilen-Romane ehren. Man wird vielleicht erwähnen, dass er 1966 einen Roman namens „Tarantula“ (Tarantel) vorlegte, in den er mehr Ein-bis-vier-Zeilen-Romane gestopft hatte, als ein Song vertragen hätte. Vielleicht wird man „Chronicles“ seine Memoiren nennen. Es ist ein Interview ohne Fragen und ein Zwölfstundensong ohne Mundharmonika. Deren Schweigen ist das einzige Manko des Buches.
Bob Dylan: Chronicles – Volume one. Simon & Schuster, New York. 293 Seiten, ca. 27 Euro. Die deutsche Übersetzung erscheint am 5. November bei Hoffmann und Campe.
15.10.2004 – aktualisiert: 15.10.2004, 06:18 Uhr
Quelle: Stuttgarter Zeitung
--