Antwort auf: 100 beste Jazzalben des Rolling Stone, kommentiert

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friedrich

Registriert seit: 28.06.2008

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vorgarten(…) schön, dass dieser thread auch bei anderen das schreiben über das subjektive hören auslöst (damit meine ich auch friedrich, zu dessen wiederaufgreifen von BRILLANT CORNERS ich gar nichts mehr geschrieben habe).

Alles in Ordnung! Deine Ausführungen regen tatsächlich an, die Alben nochmal neu und vielleicht auch aus anderer Perspektive zu hören.

Apropos Perspektive, ich hätte eine Minderheitenmeinung zu Bitches Brew anzubieten. Ist ein bisschen lang geworden, aber BB ist ja auch ein langes Album ;-) :

Ich hatte Bitches Brew mal in einer bescheiden klingenden Doppel-LP-Ausgabe und einer nicht minder bescheiden klingenden CD-Ausgabe. Das klang so, als hätte man Watte in den Ohren. Insofern machte das Hören auch keinen Spaß und BB ist damals und damit und auch nicht bei mir angekommen. Vor einigen Jahren habe ich die 40th Anniversary 3 CD + DVD Box erworben. Oft gehört habe ich sie ehrlich gesagt jedoch nie. Aber jetzt habe ich sie mal aus dem Regal gezogen und eingelegt. Vom Klang her ist das tadellos, transparent und satt.

Es ist, als würde man sich durch den Dschungel schlagen, überall wuchert es, Schlingpflanzen schlängeln sich kreuz und quer durchs Geäst. Alles schillert in verschiedenen Grüntönen, hier und da blitzt die Sonne durch dieses Gewirr, ein paar Wassertropfen perlen von den Blättern auf die Haut. Mal erblickt man eine prächtige farbige Blüte, irgendwo raschelt, kreischt, heult oder zwitschert es, ein Tier wird aufgescheucht und springt davon, ein bunt gefiederter Vogel flattert vorüber und verschwindet wieder, irgendwas schwirrt mir um die Nase oder krabbelt mir ins Hosenbein. Irgendwas zwickt und sticht mich. In welche Richtung man auch blickt, alles sieht gleich aus, kein vorne und kein hinten. Dreht man sich ein paar mal im Kreis, weiß man nicht mehr, woher man gekommen ist und wohin man geht. Alles verändert sich ständig und bleibt doch immer gleich.

Das Bild passt natürlich nicht so ganz, denn der Dschungel hat keinen beat, außerdem herrscht da eigentlich auch nicht ständige Bewegung und es gibt nicht die daraus resultierende Flut an Reizen, wie ich sie auf Bitches Brew höre. Und außerdem steht der Dschungel nicht unter Strom. Ja, eigentlich ist dieser Dschungel eine Phantasie, die Bitches Brew bei mir auslöst.

Das ist aufregend und faszinierend, aber auch irritierend und verwirrend. Und da beginnen meine Probleme: Ich weiß nicht, worauf ich mich konzentrieren soll und aus welcher Richtung die nächste Überraschung kommt. Keine Spannungsbögen? Keine Melodien? Eine Abfolge von Soli, die sich alle nur auf ein paar Akkorde und/oder den darunter brodelnden Rhythmus beziehen? Wo ist da der Fokus? Gut, man könnte argumentieren, dass es nicht den einen Fokus gibt sondern mehrere gleichzeitig. Oder einen sich ständig verschiebenden Fokus. Aber das macht es mir nicht nur schwer, der Musik zu folgen, es geht mir manchmal sogar auf die Nerven. Am besten kann ich mich noch orientieren, wenn es ein durchgehendes gestalterisches Thema gibt. Das ist meist der beat – oder nennen wir es besser den durchgehenden Puls. Aber ist der immer so zwingend? Ist das funky? Wollte Miles funky sein?

Mir kommt Bitches Brew ein bisschen vor wie eine Versuchsanordnung, bei der Miles der Band minimale Vorgaben gemacht hat und es darauf ankommen ließ, was sich daraus ergibt. Manchmal ergibt sich daraus in meinen Ohren mehr oder was anderes als die Summe seiner Teile, manchmal aber auch nicht.

Miles Run The Voodoo Down mit seinem deutlich artikuliertem durchgehenden schleppenden groove und so was wie einem Riff hat es in meine „Electric Miles“-Playlist geschafft. Aber bei vielem anderen von Bitches Brew kapituliere ich vor der verwirrenden Reizüberflutung. Ich versuche seit Jahren, Bitches Brew gut zu finden. Manchmal finde ich es sogar gut. Aber meistens und am Ende bevorzuge ich alle anderen elektrischen Miles-Alben, die ich habe. In A Silent Way, Jack Johnson, On The Corner, Get Up With It …

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“There are legends of people born with the gift of making music so true it can pierce the veil between life and death. Conjuring spirits from the past and the future. This gift can bring healing—but it can also attract demons.”                                                                                                                                          (From the movie Sinners by Ryan Coogler)