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Zu The Shape Of Jazz To Come muss ich auch noch was schreiben, auch wenn ihr schon längst wieder woanders seid. Denn das ist eines meiner liebsten Jazz-Alben.
Das Coverfoto ist auf vielen Ebenen erwähnenswert. Das Plastiksaxofon an sich empfinde ich schon als Provokation in Richtung der Etablierten. Coleman zieht dazu noch einen wuseligen und doch körperbetonten schwarzen Wollpullover drüber, um das Weiß des Saxofons umso deutlicher in den Vordergrund zu bringen. Schlips und weißes Hemd – die Jazz-Uniform jener Zeit – sind aus dem Pulloverrand nur zu erahnen. Die Uniform kriegt buchstäblich eins übergezogen. Uns schaut aber kein angry young man an, auch kein sich im heiligen Ernst auf die Suche Begebender, sondern ein freundlicher junger Cyborg, der ein Billig-Saxofon durch die Halsschlagader speist. Inszenierungen wie diese haben vielleicht auch dazu beigetragen, dass Ornette Coleman später für Punks und NoWaver ein Vorbild war. Selbst ohne Vorkenntnisse ahnt man das subversive Potential.
Ornettes Ton liegt zart neben den gängigen Harmonien und ist dabei melodieaffin, bestimmt und auf den Punkt, dass ich’s in der Summe nicht recht begreifen kann (und bin beim Nichtbegreifen vermutlich nah bei vorgarten und gypsy-tail-wind). Eigentlich schon so, wie ja auch seine Harmolodics-Theorie aufgebaut ist: Sie ist NUR mit dem Kopf nicht zu greifen. Seine Soli ufern nie aus und sind von einer Frische, die auch heute noch nichts verloren hat. Don Cherry ist ebenfalls großartig. Spielt die Linien unisono mit Ornette, manchmal beeindruckend exakt, dann wieder etwas verzögert. Bei „Focus On Sanitiy“ habe ich nach 5:22 min den Eindruck, dass etwas geschnitten worden ist. Der Übergang kommt überraschend. Geht es nur mir so? Vielleicht ist die Gruppe aber auch einfach so gut eingespielt, dass sie den Wechsel problemlos hinbekommt.
Die Rhythmusgruppe um Charlie Haden und Billy Higgins ist groß, auch wenn sie mir manchmal etwas zu sehr in den Hintergrund gemischt wird (habe das RI auf Speakers Corner). Hadens droniger Bass auf „Lonely Woman“ wurde schon von vorgarten erwähnt. Higgins bringt das Kunststück fertig, schnell und doch nie hektisch zu spielen. An den ersten vier Tracks mag ich wirklich alles. Selbst das langsame Ausfaden der einsam weiterspielenden Rhythmusgruppe in „Lonely Woman“ finde ich gut gewählt, viel besser, als wenn noch ein Ende komponiert worden wäre. Denn die Einsamkeit der Frau geht ja weiter, sie endet nicht mit dem Track, sie beginnt auch nicht mit ihm, sie wird nur während seiner Dauer empathisch empfunden und begleitet.
An den Tempowechseln, die das Album ab und an durchziehen, weiß ich gar nicht, was oder ob das damals neu war, weil ich erst so spät in diesen Pfad einbog, dass ich den Unterschied zu vorher daran nicht heraushöre. Ich kapiere ja noch nicht mal den Unterschied von Hardbob und Bebob. Für mich ist es Ornette Coleman selbst, der so besonders ist. In seiner Art zu spielen, und auch im demokratischen Geist, den seine Musik für mich immer inne hat.
Die ersten vier von sechs Tracks erfrischen und beleben, danach lässt meist meine Konzentration etwas nach und die beiden letzten Stücke rauschen an mir vorbei, während sich meine Gedanken schon mit anschließenden Unternehmungen beschäftigen. Das ist auch schön so, denn dadurch werde ich ja freundlich aus dem Album herausbegleitet, bereit für neue Taten, über die ich über die Dauer von zwei Tracks nachdenken durfte. Die neue Tat, die daraus folgte, war der Anfang dieses Textes.