Antwort auf: 100 beste Jazzalben des Rolling Stone, kommentiert

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vorgarten

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THE BLACK SAINT AND THE SINNER LADY
mingus, richardson, hafer, mariano, ericson, williams, jackson, butterfield, berliner, byard, richmond, hammer, thiele, simpson(20.1.1963)

mit diesem album geht es mir wie mit keinem anderen. ich mag ja komplex arrangierte jazzalben in größerer besetzung, solange sie einen flow haben und nicht für jede neue idee alles über den haufen werfen. hier bin ich mal komplett im flow, an anderen tagen überhaupt nicht. manchmal sage ich: mein lieblings-mingus-album! manchmal finde ich es hoffnungslos überkandidelt und fremd. heute gab es ein sowohl-als-auch-erlebnis, ich weiß ja, dass es zu beiden seiten ausschlagen könnte, aber diesen text schreibe ich ja nur einmal. die bedingungen waren nicht gut, ich hatte mir eine bessere ausgabe bestellt, die bei der post irgendwo hängengeblieben ist, und eine post-erkältungs-matschbirne hat jetzt auch nicht gerade geholfen. oft hilft einem in solchen fällen ja, wenn man beschreiben kann, was hier eigentlich passiert. aber das kann ich eigentlich nicht. in dieser musik gibt es lauter kleine bewegliche einzelräume, die mal mehr, mal weniger miteinander zu tun haben. das ist oft unglaublich reizvoll, aber es genügt eine leichte verschiebung der ausrichtung oder eine ignoranz gegen einen einzelraum, und man bleibt ganz woanders hängen. es gibt kaum themen, keine songs, keine überdeutlichen anspielungen, allenfalls motive, die an verschiedenen stellen, in verschiedenen räumen wieder auftauchen. die ballett-idee hinter dem ganzen hilft etwas – aber was für bewegungen sind das, wo sollen hier die soli und duette sein, die sich vor dem hintergrund abheben? manchmal hatte ich das bild eines alten bühnentechnikers vor augen, schwerhörig vielleicht, der immer zu früh oder zu spät den nächsten hintergrund auf die bühne abrollen lässt. manche tänzer*innen scheinen in bewegungen umzuknicken, oder haben einen eingeschlafenen fuß. manchmal, wenn es in der musik einen überdeutlichen schnitt gibt, wirkt das bildlich auf mich wie ein stromausfall, nach dem erst nach und nach wieder die lichter angehen und die positionen eingenommen werden. und in den accelerando-momenten scheint mir einen drehbühne angeworfen zu werden, die schnell außer kontrolle gerät.

eine kühle band wurde hier zusammengestellt, manchmal mit technischem schmelz und manipulativ eingesetzten growls, die ohne zufügung von feuer die aggregatzustände wechselt. kaltes schmelzen, chemische reaktionen ohne impuls von außen scheinbar, und doch passiert unglaublich viel. danny richmond bedient die drehbühne, mingus den sound, bob hammer das licht. klischefiguren tauchen auf, die sünderin, der schwarze heilige, ihr reichtum zerbröckelt zu seinen füßen, er berührt ihre gedanken, beide singen von revolution und meinen wohl unterschiedliche dinge damit, schatten und herzschläge tanzen ein duett, „then farewell, my beloved, ’til it’s freedom day“. viele bewegungen über etwas, was aus den fugen ist. ob sich herr mingus denn bald wieder in die gesellschaft integriere, sorgt sich der psychiater in den liner notes. in diese gesellschaft integrieren. ob er sich. kalter schmelz und müder growl. kurzschluss, und ein raum in der mitte liegt im dunkeln. und doch, plötzlich, brennt wieder die luft, bewegt sich alles umeinander, nimmt dabei mit, was gerade so herumliegt, flamencogitarre und marimba ohne credit, macht einen spagat zum anfang und die füße wachen auf. vielleicht schreibe ich doch noch einen zweiten text, mit freiem gehör, nach der postwendung.

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