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MY FAVORITE THINGS
coltrane, tyner, davis, jones, ertegün, dowd, iehle (21./24./26.10.1960)
ich habe „my favorite things“ lange nicht als besonders wahrgenommen, heute ist es mein lieblingsstück aus dem coltrane-universum. es brauchte eine kontextverschiebung. in einem späten, ziemlich problematischen, aber auch ziemlich tollen film von bernardo bertolucci (BESIEGED) geht es um einen merkwürdigen pianisten klassischer musik, der in einem römischen palazzo direkt an der spanischen treppe wohnt. in einer szene liegt er auf dem sofa und hört das tyner-solo aus „my favorite things“ von diesem album. ich hatte das nicht erwartet und war völlig elektrisiert, brauchte einen längeren moment, um stück und pianisten zu identifizieren. was mich so überschwemmte, war einer dieser wechsel von moll nach dur, beim dem die quartalakkorde von tyner (und er spielt ja fast ausschließlich akkorde in diesem solo) plötzlich in etwas ekstatisch-jubilierendes umkippten, ganz einfach, ganz leicht, aber sehr entschieden. im film wird damit ein moment konturiert, in dem der pianist sich zur welt hin öffnet, ich glaube sogar, dass ein fenster im palazzo dabei offensteht (aber das kann ich mir auch einbilden). genau da habe ich mich anschließend hineingearbeitet, immer wieder, wollte manchmal fast nach dem tyner-solo abbrechen, tue es aber doch nie.
gestern fiel mir plötzlich auf, dass steve davis, der bassist, in dem ganzen stück nur einen ton spielt (mit oktavsprung, rhythmisch unterschiedlich konturiert). ah, ja klar, das ist raga-coltrane, eine erste von vielen drones, die natürlich bald zum standard werden in seiner musik. aber wie verrückt, da wechselt alles von dur nach moll und wieder zurück, da kommt ein showtune-thema, die ganzen extasen des klaviers und des schlangenbeschwörer-sopransaxes, und der bass spielt dabei die ganze zeit: „e“. aber irgendwie stimmt das auch nicht, es ist ein gefühlter einzelton. und der rhythmus ist ein walzer, der gefühlt die ganze zeit morpht – man sagt heute, dass das eher 6/8 statt 3/4 sind, aber es gibt auch (je nachdem, ob der bass 2 mal „e“ oder 3 mal „e“ spielt) einen geraderen vorwärtsdrang, der vom walzer wegführt. und all das immer im pendel, bis – erlösend – ganz zum schluss mal der b-teil der komposition kommt. so viele feinheiten der trance-produktion, die natürlich auf keinen fall auffallen dürfen. man wird beim hören nur leicht verschoben.
gestern habe ich MY FAVORITE THINGS auch erstmals als album gehört, glaube ich, mit den alten kamellen, die – ganz unterschiedlich behandelt – noch hinterher kommen. „ev’ry time we say goodbye“ (porter, 1944), auf dem coltrane nur das thema spielt, danach darf tyner in double time ausholen. „summertime“ (gershwin, 1935), die stunde des schlangenbeschwörenden tenorsaxofons mit den vielen „falschen“ griffen, der treibenden intensität, die weit weg vom text führt, und den sich überschlagenden tyner-linien. schließlich der medium-swinger aus dem handgelenk, „but not for me“ (wieder gershwin, 1930), der fast aus den marathonsessions von miles für prestige stammen könnte, mit einer großen eleganz und ganz im dienst der komposition. was das alles in gänze und im zusammenhang leistet, ist ein ausweis der beweglichkeit: so vital ist das ganze zeug, wenn man solche dinge damit anstellen kann – wenn man die ganze geschichte der auseinandersetzung damit inkorporiert hat. aber am ende reicht mir nur ein kurzer ausschnitt aus einem klaviersolo und ich begreife plötzlich, wie radikal anders musik hier funktioniert.
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