Antwort auf: 100 beste Jazzalben des Rolling Stone, kommentiert

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vorgarten

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MAIDEN VOYAGE
hancock, hubbard, coleman, carter, williams, lion, van gelder (17.3.1965)

miles davis hatte seine neue band freigesetzt, im januar 1965 ein erstes studioalbum mit ihr aufgenommen, auf dem originalkompositionen der mitglieder zum einsatz kamen, dann gerät die arthritische hüfte dazwischen, zwei operationen und eine rekonvaleszenzzeit bis november. die freigesetzte band machte ohne ihn weiter, vor allem auf blue note. auf MAIDEN VOYAGE nimmt hancock seinen beitrag zu E.S.P., „little one“, nochmal neu auf, so, wie er ihn geschrieben hatte. wayne shorter, als einziger kollege hier nicht dabei, nimmt im gleichen monate THE SOOTHSAYER auf, auch mit hubbard als trompeter, zu der zeit eher auf dem coltrane-, als auf dem miles-trip, eine andere art von freisetzung. auf MAIDEN VOYAGE triumphiert die rhythm section der miles-band, das nautische programm-musik-programm muss man dabei nicht allzu ernst nehmen (der titeltrack war für einen werbespot komponiert), es geht hier nicht um wellen und stürme, vielleicht ein bisschen um die brandung als kollision unterschiedlicher elemente, aber auch ohne diese idee waren hancock, carter und williams darin geübt, kleine inseln im swing zu bilden, in denen die zeit aus den irdischen fugen ist.

ich bin immer wieder erstaunt, wenn ich lese, dass diese fünf stücke an einem tag im studio eingespielt wurden. es sind ja eben nicht fünf variationen über eine musikalische idee, sondern fünf komplett unterschiedlich funktionierende kompositionen, die von allen beteiligten fünf unterschiedliche ansätze verlangten. ein modales pendel mit ungewöhnlichen rhythmusakzenten, die schon bei hubbard, spätestens aber bei hancock ins rubato suspendiert werden; eine traditionelle hardbop-struktur, bei der sich hubbard aber sofort von den vorgegebenen akkorden verabschiedet; eine ballade, bei der sich aus dem rubato ein langsamer freier swing entwickelt; quasi free jazz, bei dem völlig offen ist, was in den soli damit passiert. mit dem delfintanz schließen sie am ende an die live-praxis der standardentwicklung an, und da ist endlich auch george coleman im training, den das hier genausowenig überrascht wie das, was sie aus „stella by starlight“ oder „my funny valentine“ gemacht haben, als er noch in der band war. er hat einen wunderschönen ton hier, zweimal leicht angefeuchtet, als ob dann doch eine meeresbrise über sein rohrblatt weht. überraschend aber finde ich, wie schlüssig er im freejazzteil spielt, er kommt zu ganz ähnlichen stakkato-linien wie shorter, nimmt die herausforderung an. hancock unterstützt ihn zunächst vorsichtig, lässt ihn dann aber auch frei entwickeln. es gibt eine elastizität im strukturgebenden und -auflösenden trio, mit der jede nur denkbare solostimme funktionieren kann. hier kann sich hubbard von miles absetzen und coleman seine eigenen anker werfen. in dieser liste hier aber ist das album mutmaßlich, weil es eine perfekte dramaturgie von fünf stücken hat, darunter zwei, die man immer im ohr hat, wenn man im leben ein bisschen jazz gehört hat. ich frage mich manchmal, wie miles diesen output seiner angestellten wahrgenommen hat, vielleicht von ihm initiiert, aber dann sehr schnell freigeschwommen. sowas muss man erstmal wieder einfangen.

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