Antwort auf: 100 beste Jazzalben des Rolling Stone, kommentiert

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vorgarten

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ESCALATOR OVER THE HILL

bley, haines, cherry, snow, mantler, rava, rudd, burtis, knepper, jeffers, johnson, buckingham, lyons, barbieri, redman, woods, carlisle, freeman, robinson, baronian, imig, jenkins, newton, scott, mclaughlin, brown, berger, preston, bruce, haden, mc clure, youngstein, motian, dawson, morimando, ronstadt, jordan, lee, jones, viva, papageorge, ferguson, hupp, marquand, blackstone, cott, gebhardt, gerlach, hale, roughen, schneider, stewart, mantler, goodman, hill, crotty, martin, baxter, mossler, brown, jones, sjodahl, fried, weber, wickemeyer (11/1968, 11/1970-6/1971)

endlich oper. aber wann und wie hört man sowas? ganz uninformiert vielleicht, sich einfach dem flow hingebend, den vor allem die erste hälfte auszeichnet, bei all dem stückwerk, in fast 4 jahren zusammengesammelt, in vier unterschiedlichen studios (und privaträumen) aufgenommen (allein die liste der toningenieure hier hat mich 10 minuten gekostet), mit durchreisenden musiker*innen und einem dichter und ideengeber, der sein material aus indien schickt. das ist wirklich faszinierend, wie da im ergebnis eins ins andere greift, ohne das ein patchwork-eindruck entsteht.

oder man folgt der idee der aufgelösten logik, nach der alles ohnehin nach ungewohnten regeln und maßstäben organisiert ist, von bedeutung befreiten worten und sprachbildern, von szenischer geschlossenheit weit entfernter kontellation von figuren, gruppen, bands und einzelstimmen. EOTH ist ein spät-beatnik-werk, das mit bürgerlichen vorstellungen nicht einzufangen ist, das aus hotellobby-perspektive (in irgendeiner exotischen fremde, natürlich kein realer ort), das ein raum für einander begegnenden und ignorierenden akteur*innen darstellt, die ein dichter-komponistin-auge, das eine souveräne und unverstrickte distanz behält, auf ein geschehen wirft, das sich (wie auch die perspektive) mehr und mehr lustvoll auflöst (auflösen). eine hotellobby-band aus amateur*innen, ein freejazz-orchester (das woanders hymnen und kampflieder probt), eine jazzrockband on the road (darunter 2/3 von lifetime), eine wüstenband, schließlich noch eine gruppe musikalischer phantome, man muss das alles nicht so ernst nehmen, es gibt sehr viel um-ta-ta-rhythmen, die zirkuswirbel erzeugen, ein bisschen gegniedel und markante stimmen, die merkwürdige texte aufsagen. und am ende, wenn das patchwork doch noch auseinanderfliegt, wenn beatnikgemäß die drogen greifen, die ich-auflösung sich in der fremde, im himmel über der wüste ereignet, kommt die stunde von don cherry, der in fremden zungen spricht und die oper in in die endlosrille schickt („and again“, „and again“). „oper“ ist hier – laut carla bley – die kurzform von „chronotransduction“, natürlich eine wortneuschöpfung, die so etwas insinuieren mag wie die umwandlung eines zeitreizes in ein elektrisches signal, das vom körper verarbeitet werden kann. and again. and again.

bemerkenswert viele frauen sind hier dabei, bemerkenswert für ein jazzalbum um 1970 herum. nicht nur die sängerinnen (linda ronstadt, sheila jordan und jeanne lee), viva bring die warhol factory mit, peggy imig greift nach 7 jahren wieder zum tenorsax, sharon freeman spielt ein waldhorn, nancy newton bratsche, diverse erzählerinnen treten auf, natürlich gibt es auch eine veritable opernsängerin. interessante verbindungen führen zu zappa (don preston), sogar zu mingus (jimmy knepper), zu mahavishnu und miles (mclaughlin). aber das interessante ist: es geht hier nicht um vorder- und hintergründe, um soli oder features. wenn man barbieri heraushört, cherry und rudd (wie sollte man sie nicht heraushören?), dann eskaliert auch gleichzeitig jemand anderes mit, nicht selten die chronotransduktionierende leiterin. das ganze ding ist ihr triumph – weil es fast ohne leerlauf, ohne mätzchen, ohne übers knie gebrochene verknüpfungen und zusammenhänge, man könnte fast sagen: ohne gewalt, funktioniert.

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