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The Prestige Records Story (Aufnahmen von 1949 – 1971, veröffentlicht 1999)
4 CDs mit 50 Aufnahmen aus über 20 Jahren, dazu ein 100-seitiges Booklet mit Essays, Coverabbildungen, diskografischen Angaben, Fotos und Kommentaren zu jedem Stück von u.a. Labelgründer Bob Weinstock höchstpersönlich. Veröffentlicht 1999 zum 50. Geburtstag von Prestige Records.
Bob Weinstock wurde als Kind von seinem Vater Selig Weinstock mit Jazz angefixt, eröffnete als 19-Jähriger in Manhattan einen Plattenladen und gründete ein Plattenlabel. Eine dieser typisch amerikanischen Erfolgsstorys des freien Unternehmertums. Auch wenn Weinstock wohl niemals Tellerwäscher sondern finanziell durch sein Elternhaus abgesichert war und es wohl auch nicht zum Millionär brachte.
So schön solche Boxen sind, so schwierig können sie auch sein. Wann hat man schon mal Gelegenheit, sich durch so viel Musik (gut 5 Stunden!) zu hören, ohne dass sie beim einen Ohr rein und beim anderen Ohr wieder raus geht? Und natürlich kann man immer über die Auswahl der Tracks streiten. Die hat hier wohl Bob Weinstock persönlich getroffen. Die Nennung von Musikern auf der letzten Seite des Booklets, die es nicht auf die Box geschafft haben (u.a. Chet Baker, Yusef Lateef, Moondog, Gerry Mulligan, Paul Quinichette, Ben Webster) liest sich fast so beeindruckend wie die der Musiker, die mit dabei sind. Ich persönlich hätte mir etwas mehr funky Soul Jazz der späten 60er gewünscht und wo sind eigentlich Aufnahmen des Prestige Sub-Labels Swingville? Aber man kann nicht alles haben.
Ich habe aus den 50 Aufnahmen eine zweiteilige Playlist („Highlights From The Prestige Records Story Part I & II“) mit 15 tracks destilliert. Dabei ging angenehme Hörbarkeit und Abwechslung manchmal vor Repräsentativität. Amtliche Klassiker wie Miles’ Walkin’ oder Rollins’ St. Thomas mussten leider draußen bleiben. Dafür bekommen etwas kleinere Namen wie Jimmy Raney und Sonny Criss eine Chance.
Highlights From The Prestige Records Story Part I
Lee Konitz & Lennie Tristano – Subconcious-Lee (1949, von Subconcious-Lee)
Die erste 78 rpm-Single auf Prestige überhaupt und gleich ein Hit. Und auch die einzige Aufnahme von Lennie Tristano, die ich habe. Das klingt wie Bebop, rasend schnell über eine wie eine Nähmaschine schnurrende Rhythm Section mit Shelly Manne an den drums gespielt, aber leichter, federnder und geschmeidiger. Cooler. Bob Weinstock schreibt, dass er damals dachte, Miles Davis und Lee Konitz wären die Dizzy & Bird der Zukunft, und das sei die Richtung, in die er mit seinem Label gehen wollte.
Sonny Stitt – All God’s Chillun Got Rhythm (1949, von Sonny Stitt/Bud Powell/J.J. Johnson)
Das hingehen ist viel erdiger, da hört man den R&B im Bebop, das knackige Thema, den kraftvollen Sound von Stitt am Tenor und Bud Powell und Max Roach sorgen auch für ausreichend Bodenhaftung. Der Titel ist Programm: Geht voll nach vorne und packt einen. 
Jimmy Raney & Stan Getz – ‚Round Midnight (1953, von Early Stan)
Ein Sprung um 4 Jahre nach vorne und auch wenn die Komposition damals schon ein paar Jahre alt war, ist das was ganz anderes als die beiden vorherigen Tracks. Smooth, kühl, zurückhaltend. Eine ganz andere Ästhetik – aber in Ansätzen schon von Konitz und Tristano vorweg genommen. Was Stan Getz später daraus machte, können wir woanders hören. Das einzige Stück von Gitarrist Jimmy Raney, das ich kenne. 
Miles Davis – Bags’ Groove (1954, von Bags Groove)
Ein Gassenhauer, aber für mich unkaputtbar. Vielleicht, weil er sich als Gassenhauer gar nicht so sehr aufdrängt. Das Thema kann ich zwar im Schlaf mitpfeifen, aber auch über die Soli bleibt das Stück über mehr als 9 Minuten spannend. Miles in Hochform, Mlit Jackson gleitet wunderbar hinein und Monk ist in seiner Art ein erdiges und exzentrisches Gegengewicht. Ein tolles Treffen dieser dreier Charaktere + gut geölt laufenden bass and drums von Percy Heath und Kenny Clarke. Kein Wunder, dass Columbia um diese Zeit auf Miles aufmerksam wurde und ihn wenig später einkaufte.
Milt Jackson – My Funny Valentine (1955, von Milt Jackson)
Noch mal Milt Jackson, hier als leader mit Horace Silver am Piano, Percy Heath am Bass und Conny Kay an den drums. Also fast das Modern Jazz Quartet. Horace Silver mit einer einfachen aber umso prägnanteren Einleitung, ein kleines repetitives Thema, das später auch immer wieder auftaucht. Darüber tänzelnd Mit Jackson. Sehr elegant, perlend, zart, melodisch.
The Modern Jazz Quartet – Django (1954, von Django)
Und ein drittes mal Milt Jackson, jetzt mit dem kompletten MJQ mit John Lewis am Piano. Der Django Reinhardt gewidmete MJQ-Gassenhauer ist eine Demonstration an geschmeidigem Gruppenspiel und zurückhaltender Eleganz. Und ich glaube ich höre auch einfach den perlend funkelnden Klang des Vibraphons gerne. 
Tadd Dameron – On A Mistiy Night (1956, von Mating Call)
Geschmeidigkeit und Eleganz sind auch hier Trumpf. Ich weiß nicht, woran es liegt, aber manchmal habe ich das Gefühl, hier spielt viel mehr als nur ein Quartett. Ist es der volle Klang von John Coltrane am Tenor? Ist es die Komposition von Tadd Dameron oder das Zusammenspiel von Piano und Sax? Jedenfalls ist der gemeinsame Einstieg von Tadd und Trane in dieses Stück schon so bezaubernd, dass es mich sofort gewinnt. 
Gil Evans – Nobody’s Heart (1957, von Gil Evans & Ten)
Das Debut von Gil Evans unter eigenem Namen. Hier haben wir es dann tatsächlich mit einer größeren Besetzung zu tun, ein Tentett + Piano mit u.a. Bass-Posaune, (Wald-)Horn und Fagott. Was Evans hier durch Schichtung der Klangfarben, die Gegensätze von Flächen und Akzenten und den Aufbau des Stückes erreicht, ist ganz großartig. Dabei bleibt das die meiste Zeit ganz ruhig, breitet sich ganz langsam aus und erzeugt gerade dadurch eine enorme Spannung. Sicher eine der außergewöhnlichsten Aufnahmen auf Prestige und eine meiner liebsten. Allein dafür, dass Bob Weinstock sich getraut hat, das aufzunehmen und zu veröffentlichen, gebührt ihm Ruhm und Ehre.
Teil 2 folgt.
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“There are legends of people born with the gift of making music so true it can pierce the veil between life and death. Conjuring spirits from the past and the future. This gift can bring healing—but it can also attract demons.” (From the movie Sinners by Ryan Coogler)