Antwort auf: 100 beste Jazzalben des Rolling Stone, kommentiert

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vorgarten

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TIME OUT
brubeck, desmond, wright, morello, macero, plaut (25.6., 1.7., 18.8.1959)

ein kontroverses album, was durch den unerwarteten unmittelbaren kommerziellen erfolg schnell in vergessenheit geriet. 7 variationen über eine musikalische idee (vermeidung des normativen 4/4-rhythmus), die nicht neu war (max roach), aber hier anders gemeint – und anders verstanden. jazzkritiker verstanden es als jazzferne technische übung (legendär die downbeat-kritik von ira gitler, 2 sterne), die unteren chefetagen von columbia als verkaufsgefährdendes experiment. der weiße bebrillte pianist, der noch vor ellington ein time(!)-cover bekam, mit seinen lehrern aus der neuen klassik, seinem college-publikum und seinen verschrobenen nonet-aufnahmen, dürfte sich gut als zielscheibe für die art von konservativer skepsis geeignet haben, die vom blues als lebenspraxis nicht viel versteht, sich aber intellektuell exklusiv auf ihn bezieht. brubecks anliegen war aber ein anderes: er hatte mit offenen ohren in die musik an anderen orten hineingelauscht und vor allem eines entdeckt: wie unangestrengt und organisch menschen in istanbul und auf feldaufnahmen aus zentralafrika musik jenseits von 4/4 spielten. die schwierigkeit war für ihn weniger, stücke zu komponieren, die die rhythmischen strukturen verkomplizierten, als vielmehr den eindruck von lässigkeit und natürlichkeit dabei zu erzeugen.

so geht die heutige erzählung, und es ist auch ein bisschen lustig zu lesen, dass das quartett 3 sessions, mit unzähligen fehlern (von allen vieren, einschließlich brubeck), frustrationen und motivationsanstrengungen brauchte, um dieses album fertigzustellen bzw. die dafür angestrebte leichtigkeit zu erzeugen. nichts auf TIME OUT ist ein first take, das ergebnis ein kleines wunder. das sind ja nicht nur stücke in schrägen metren, sondern komplexe gebilde, in denen verschiedene metren ineianderfließen, gegeneinander arbeiten, gleichzeitig existieren oder sich überraschend abwechseln. brubeck wusste, dass der kreuzrhythmus (4/4 gegen 3/4) in westafrikanischen musikkulturen keine seltenheit ist, aber sowas tatsächlich als jazzquartett durchzuhalten wie in „kathy’s waltz“ (der in 4/4 anfängt!), und damit auch noch einen solisten wie desmond freizusetzen, um völlig klischeefreie linien zu spielen, ist hier ergebnis harter arbeit und doch nicht weniger spektakulär. wenn man nur „take five“ kennt, ist man überrascht, das stück hier im albumzusammenhang zu hören, nach der komplex arrangierten ballade fast eine muskellockerung, ein vamp um ein schlagzeugsolo herum, zwei jam-ideen, die brubeck zusammenführte – und doch haben sie dafür unzählige proben gebraucht.

brubecks arbeit ist integrativ, und das hat auch mit haltung zu tun. verschiedene metren und rhythmen werden integriert, um einen überschuss zu erzeugen. ein schwarzes bandmitglied wird integriert (dafür 40.000-dollar-tourneen durch den süden abgesagt), weil eugene wright einen eigenen weg findet, mit dem composer’s piano von brubeck umzugehen. die band ist ein netzwerk – alle bekommen ihr kleines solo-feature, aber es ist vor allem erstaunlich, wie präsent jede einzelne stimme im sound ist (auch hier: der bass!).

man müsste jetzt noch über das abstrakte cover (ein plan b, miró, brubecks wunsch, war zu teuer) reden, über den columbia-kirchensound (hat je ein altsax besser geklungen?), über die kenntnisse der beteiligten bis in die oberste chefebene von columbia von moderner klassik (sogar die frau des aufnahmeingenieurs fred plaut hat als sängerin stücke von francis poulenc uraufgeführt; von brubeck und macero gar nicht zu reden), darüber, wie TIME OUT in der staffel von legendären jazzaufnahmen aus dem jahr 1959 sitzt (einige kommen hier natürlich noch). aber schön (und neu) fand ich die geschichte, wie brubeck im dauerfeuer der „jazzferne“-kritik damals unterstützung von einem schwarzen musikwissenschaftler bekam, der einfach in einer diskussion einen spiritual anstimmte und später verriet, dass der taditionell in 5/4 gesungen wird, herr brubeck sei jazzhistorisch also auf dem richtigen weg…

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