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JOURNEY IN SATCHIDANANDA
coltrane, sanders, mcbee, haden, ali, gupta, wood, shabazz, coltrane, michel, o’brien, musgnug (4.7./8.11.1970)
das letzte stück heißt „isis and osiris“. der mythos beschreibt die erfolgreichen anstrengungen einer witwe, die verstreuten einzelteile ihres mannes wieder zusammenzusetzen, so dass er – in anderer form – weiterleben kann. die übertragung auf alice coltrane ist etwas morbide, aber sie hat das wahrscheinlich nicht so empfunden und diesen titel sehr bewusst ausgewählt.
1961 stellte john coltrane im village vanguard ein stück namens „india“ vor, das auf einer drone-figur beruht, die ahmed abdul-malik wahrscheinlich mit einer tanpura erzeugte. eine anbindung der relativ frischen idee von modalem jazz an eine form von indischer klassischer musik, ein stück imaginärer folklore, ohne spielpraxis mit indischen musikern und ohne studium vor ort. 9 jahre später, kurz vor ihrem abflug nach indien, lädt alice coltrane eine us-amerikanische tanpura-spielerin mit indischer familiengeschichte (tulsi sen gupta) in das heimstudio im coltrane-haus ein, um sich auf die reise vorzubereiten – und setzt so einzelteile ihres verstorbenen mannes so zusammen, dass sie selbst etwas für sich völlig neues entdeckt.
1970 ist john schon 3 jahre tot, die mitglieder seiner bands haben sich weiterentwickelt, sanders und ali haben die quartett-zeit integriert, aber eigentlich an ihren eigenen sachen weitergearbeitet, genauso wie alice coltrane. die flirrenden mantren, für die JOURNEY IN SATCHIDANANDA so berühmt ist, mit ihren tanpura-drones, den schimmernden glöckchen und anschlaglosen tamburinvibrationen, den auseinanderlaufenden harfenarpeggien, dem ätherisch-nasalen sopransax von sanders, sind ja nur ein einzelteil, das mit anderen zusammengesetzt ist. ein anderes ist das immer wieder ins fast bodenlose abrutschende blues-piano, mit dem alice an ihre spielpraxis vor der john-zeit anknüpft. sanders und ali haben wege gefunden, sich in der loop-struktur der stücke zurechtzufinden und sie unter spannung zu setzen, ohne permanent den höhepunkt zu suchen; und cecil mcbee spielt die tragfähigen bass-ostinato immer noch so, als würde er improvisieren (außerdem gibt es ein grandioses solo von ihm auf dem album). der rest ist textur, mit stichen und nähten, an denen ältere einzelteile hängen. und alles gerät neu ins schweben.
als ich alice coltrane mitte der 90er für mich entdeckte (auf EXPRESSION), war sie eine komplett obskure figur. ornament in der schwierigen spätphase john coltranes, mit wenigen soli und live oft schlecht aufgenommen, die sich später in esoterische randzonen verabschiedete, musikalisch nicht mehr in erscheinung trat und zurückgezogen in einem ashram lebte. das änderte sich schrittweise kurze zeit später. 1995 brachte sie weiteres sessionmaterial der letzten coltrane-band heraus, mit konzisen, kurzen improvisationen und interplays, die man vorher eben nur auf EXPRESSION entdecken konnte, wenn man denn wollte. ein paar jahre später gab es plötzlich compilations ihrer impulse!-alben, noch ein paar jahre später auch aus der warner-zeit, es tauchte ein vielgeteilter mix aus stücken ihrer ashram-tapes auf, 2004 kam dann schließlich das comeback-album, das mühelos elemente ihrer gesamten musikalischen entwicklung vernähte. und jetzt steht dieses album, in dem ich immer noch neue details höre, auf platz 25 einer liste der besten jazzalben. damit will ich jetzt nicht sagen: ich hab’s ja immer gewusst bzw. gehört – aber was mich damals für ihre musik sensibilisierte, als ich ihre beiträge auf EXPRESSION und ihre obskurisierung in den damaligen texten gegeneinander abwog, war wohl, dass ich erfahrungen nachvollziehen konnte, wie man in normativen lesarten aus dem blick und aus der geschichte verschwinden kann. und dann doch wieder nicht.
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