Startseite › Foren › Über Bands, Solokünstler und Genres › Eine Frage des Stils › Blue Note – das Jazzforum › Enja Records › Antwort auf: Enja Records
Dhafer Youssef – Electric Sufi | Zu diesem Album gibt es bei mir eine Geschichte. In der Zeit, als ich gerade vom Gymnasium an die Uni wechselte und noch keinen Nebenjob hatte, konnten ein paar Leute um meine Schwester herum regelmässig nach Konzerten Flyer verteilen. Das war nicht gut bezahlt, aber wir hatten eh eine Bahnkarte und abends nicht viel vor. Und wenn die Konzerte nicht voll waren und wir Interesse hatten, durften wir kostenlos rein. So hörte ich in der Zeit u.a. Brad Mehldau oder Kenny Barron/Mulgrew Miller im KKL in Luzern, Martial Solal/Johnny Griffin/NHOP in der Zürcher Tonhalle, Charles Lloyd, Ahmad Jamal mit George Coleman, Annette Peacock oder Shirly Horn beim jazznojazz … alle, ohne dafür zu bezahlen, was ich mir eh nicht hätte leisten können oder wollen damals. Am 8. November 2001 machte die Enja-Sause zum 30. Geburtstags des Labels in der Tonhalle Halt – und meine Schwester hatte da wohl keine Zeit … es gab Freikarten und meine Mutter kam mit, die mir dann ein paar Wochen später die CD zu Weihnachten schenkte. Nach dem tollen Konzert des Maria Schneider Orchestra im grossen Saal folgte ein spätes Konzert mit Dhafer Youssef in der kleinen Tonhalle, das sich bei mir noch mehr eingebrannt hatte. Oud und Gesang vom Leader, Trompeten mit etwas Elektronik von Markus Stockhausen, ein tiefer, funky Kontrabass von Dieter Ilg und eins der tollsten Sets, die ich bis dahin je von einem Drummer erlebt hatte vom Lokalmatador (aber lägnst Wahl-New-Yorker) Jojo Mayer. Im abgedunkelten Raum enwtickelte das Konzert einen unglaublichen Sog – das grenze am Ende an die Ekstase.
Auf dem Enja-Album, das im November und Dezember 2000 in den Fifth House Studios in Brooklyn, im Loft in Köln und im on-the-fly in Paris aufgenommen wurde, übernehmen Mino Cinelu und Will Calhoun die Drums (beide auch Percussion, Cinelu zudem „sound effects, Calhoun auch Loops), zusätzlich sind Wolfgang Muthspiel (g), Doug Wimbish (elb) und Deepak Ram (bansuri) dabei und Rodericke Packe steuert „ambient sounds“ bei, aus denen die Band bisweilen auftaucht. Stockhausen spielt Tropmete, Flügelhorn, Piccolo-Trompete und Vierteltontrompete. Die Line-Ups wechseln ständig, Trompete und Gitarre machen auch mal Pause, die Bansuri sowieso. Im Titeltrack kriegen wir Youssef, Ram und Muthspiel mit der Living Colour-Rhythmusgruppe zu hören, anderswo stösst noch Dieter Ilg dazu (mit oder ohne Trompete und Gitarre, ohne Bansuri), es gibt Duos (Youssefs Gesang mit Muthspiel, Youssef mit den ambient sounds, Youssefs Oud mit der Bansuri), ein Trio (Youssef, Muthspiel, Cinelu) und einige Tracks mit Ilg und Cinelu, auch einen mit Ilg und Calhoun – das ist „Nouba“, in dem auch Stockhausen und Muthspiel zu hören sind und der, abgesehen von der Gitarre, meiner Konzerterinnerung wohl am nächsten kommt. Calhoun ist auch anderswo sehr toll, Cinelu hat andere Qualitäten als scharfe Präzision und bringt die auch hervorragend ein. Er kombiniert z.B. Trommeln mit Teilen eines Drum-Kits und bringt seine übliche riesige Palette an Sounds ein. Der Gesang von Youssef – in der hohen Lage, ohne Worte – ist auf dem Album stellenweise fast so eindringlich wie ich ihn damals im Konzert empfunden habe.
Wie es dazu kam, dass dieses Album bei Enja entstand oder landete, kann ich nicht genau nachvollziehen. Geschrieben hat alles Youssef (zwei Stücke unter Mitwirkung von Muthspiel, darunter ihr Duo), aufgenommen haben Peter Karl (Brooklyn), Christian Heck (Köln) und Steve Arguëlles (Paris), der auch den Mix anfertigte. Als Produzent fungiert Youssef selbst, Arguëlles als Co-Produzent der Pariser Aufnahmen, die allerdings nicht ausgewiesen sind. Ich weiss auch gar nicht, ob nicht allenfalls etwas (Wimbish/Calhoun?) nur via Overdubs dazu gekommen ist – fände ich angesichts der äusserst organisch wirkenden Musik zwar verblüffend, aber Leute mit diesen Skills kriegen das natürlich hin.
—
Vom Vorab-Artikel der NZZ, den ich im Rahmen der Suche nach dem richtigen Datum gerade finde, kann man ohne Abo zwar nur den ersten Absatz lesen, aber den zitiere ich hier gleich mal, da er ein Kurzportrait von Matthias Winckelmann enthält:
Winckelmann sieht aus wie der Jazzfan aus dem Bilderbuch: Mit Bart, schräg aufgesetzter Brille und einem pfiffigen Ausdruck in den Augen empfing er uns in den Räumlichkeiten seiner Schweizer Vertriebsfirma in Zürich. Und er ist ein Jazzfan mit Leib und Seele: «Im Tonträgermarkt besitzt der Jazz einen Marktanteil von 2%, die klassische Musik 5%, und der Rest ist Schrott!», verkündet er im Brustton der Überzeugung. Der 1941 in Berlin geborene und in Frankfurt aufgewachsene Musikliebhaber studierte in München Volkswirtschaft und Soziologie und interessierte sich zunächst für die Arbeit im Entwicklungsdienst. Bald entdeckte er, dass die damit verbundene bürokratische Welt seine Sache nicht ist, und erinnerte sich an den Rat seines Vaters: «Wenn du etwas im Kopf hast, das dich existenziell berührt – mach das, ohne Rücksicht auf Geld und Ruhm.»
Ich muss mich mal um den ganzen Artikel bemühen …
--
"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #166: First Visit: Live-Dokumente aus dem Archiv von ezz-thetics/Hat Hut Records - 14.10., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba