Antwort auf: Enja Records

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James Emery Septet – Spectral Domains | Auf das zweite Enja-Album von James Emery kam ich zufällig, als ich nach den Enja-Alben von Marty Ehrlich suchte und da noch etwas weiterschaute. Ehrlich ist an Flöte, Alt- und Sopransax dabei (und schon auf Emerys erstem Enja-Album zu hören, das ich aber noch nicht kenne). Auch zum Septett gehören Chris Speed an Klarinette und Tenorsax, Mark Feldman an der Violine, Michael Formanek am Bass, Gerry Hemingway am Schlagzeug, Kevin Norton an Vibraphon, Marimba, Timpani, Gongs und kleiner Percussion, und natürlich der Leader an der akustischen Gitarre. Ted Panken hat sehr ausführliche Liner Notes geschrieben, in denen er Emery dem „Post-Jazz“ zuordnet: „That’s my term for music that could not exist were its practitioners not thoroughly immersed in jazz vocabulary. They incorporate the jazz experience as bedrock for reflection and elaboration upon a wide spectrum of source material, weaving together diverse strains in a manner that transcends idiomatic genre.“

Emery nutzt die Palette an Klängen, die seine Sidemen mit ihren vielen Instrumenten zu bieten hat. Komponiert hat er die Musik 1995/96 mit einem Guggenheim Fellowship Grant im Rücken, aufgenommen wurde sie am 17. und 18. September 1997 sowie am 26. Februar 1998 im Systems Two in Brooklyn von Joe Marciano. Manche Stücke hier knüpfen gar nicht so schlecht an das Quartett von Simion an, etwa Emerys eigenwilliges Arrangement von „Far Wells, Mill Valley“, einem der speziellsten Stücke von Charles Mingus, das hier ein wenig nach verschwundenem Schtetl klingt. Neben Mingus stehen auch Thelonious Monk – eine Quartett-Version von „Trinkle Tinkle“ (ts/g/d/mar) – und Ornette Coleman – „Kathelin Gray“ im Duo mit Speed an der Klarinette – auf dem Menü, in „Sound Action Seven“, dem viertelstündigen zweitletzten Stück, dirigiert Mark Helias das Septett.

Die Einflüsse auf Emerys Musik sind so zahlreich wie unterschiedlich: Charlie Parker, Monk, Bud Powell oder Dizzy Gillespie spielten früh eine Rolle, Bill DeArango machte ihn mit Lester Young vertraut, später tauchte er in die Musik von Coltrane, Miles Davis, Ornette Coleman und Cecil Taylor ein, entdeckte Roscoe Mitchell, Anthony Braxton und der AACM ebenso wie Bartók, Boulez und die zweite Wiener Schule (Berg, Schönberg und Webern). Als er 1973 nach New York kam, nahm er Unterricht bei Leroy Jenkins, der ihm eine Wohnung über seiner eigenen verschaffte. Emery kriegte als das Revolutionary Ensemble aus der Nähe mit, spielte bald mit Kalaparusha, lehrte im Creative Music Studio von Karl Berger, stiess zum Human Arts Ensemble von Bobo Shaw mit Joseph Bowie, Luther Thomas und John Lindberg … und gründete 1977 mit Lindberg das String Trio of New York, zunächst mit Billy Bang an der Violine.

All das und mehr fliesst in die Stücke ein, die Emerys Septett hier spielt. Cut-and-Paste-Techniken, die Überlagerung unterschiedlicher Motive, wechselnde Metren und Rhythmen, ständig changierende Klangfarben, Kontrapunkt … und immer alles mit Improvisation verwoben: „I’m fascinated by the interstices of composition and improvisation, where the identities start to blur and improvised sections take on a composed aspect, as well as written material taking on an improvised cast so it isn’t rigid and doesn’t sound like somebody’s reading it – removing the music from the paper, so to speak“ – so äussert sich Emery zum ersten Stück auf dem Album, aber die Sätze kann man wohl generell für seine Vorgehensweise gelten lassen. Neben den erwähnten Duos und Quartetten mit Speed (der im Monk-Stück ein starkes Solo spielt) gibt es mit „Cosmology“ auch ein Solo für den Leader – eine Demonstration seines Könnens an der klassischen Gitarre. „Sound Action Seven“, das längste Stück, sei zu Teilen traditionell, zu anderen graphisch notiert oder in Worten erläutert, angelehnt an die Praxis von AACM-Vertretern wie Braxton oder Wadada Leo Smith.

Ich brauche ein paar Momente, um in dieses Album reinzufinden, doch spätestens bei Mingus (dem dritten Stück nach den zwei Teilen von „Red Spaces in a Blue Field“) hat mich die Musik. Die stets wechselnden Instrumentierungen und Klangfarben, die immer wieder aus den Ensembles ausbrechenden Improvisationen, die individuellen Stimmen auch in den komponierten Passagen … das obsiegt über die stellenweise schon etwas trockene, komplexe Musik.

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"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #166: First Visit: Live-Dokumente aus dem Archiv von ezz-thetics/Hat Hut Records - 14.10., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba