Antwort auf: Enja Records

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Benny Waters – Birdland Birthday: Live at 95 | Benny Waters lebte von 1902 bis 1998 und war bis ins hohe Alter aktiv – wie der Titel verrät, dokumentierte Enja ihn an seinem 95. Geburtstag (und den zwei folgenden Abenden) live im Birdland in New York. Das war ein eher ungewöhnlicher Move für das Label, erst recht für die Winkelmann-Schiene, obendrein mit Phil Schaap als Autor der Liner Notes … eins der vielen One-Offs beim Label. Und eins der wenigen Orgeljazz-Alben mit Mike LeDonne (auch am Klavier), dazu Howard Alden bzw. auf einem Stück („Misty“) Steve Blailock an der Gitarre und eine Rhythmusgruppe, die den Veteranen bestens bettet: Earl May am Bass und Ed Locke am Schlagzeug. Waters spielt Altsaxophon und singt auf „Everybody Loves My Baby“. Los geht es mit einem lebendigen Groove und „Exactly Like Me“ mit kurzen Phrasen des Leaders, die sich erst mit der Zeit zu einem kohärenten Solo zusammensetzen, in der Jump-Tradition irgendwo zwischen Rhythm & Blues und Swing. Später gibt es Soli von LeDonne, May (gut!) und Alden, bevor Waters nochmal spielt und Locke auch ein paar Takte kriegt. Waters‘ „Blues Amore“ schlägt dann ein langsameres Tempo an und Alden spielt ein sehr schönes Solo. Beim Spiel des Leaders denke ich eher an Tab Smith oder (wie gestern bei Watson da und dort) an Earl Bostic denn an Benny Carter, Johnny Hodges oder gar Charlie Parker, der Funk kommt aus New Orleans, nicht von Cannonball Adderley – aber die Wurzeln sind ja auch bei Parker oder Adderley immer klar … und der moderne Jazz ist wohl auch an Waters nicht ganz spurlos vorbeigegangen, an den anderen Mitwirkenden erst recht nicht, und so ist das ein durchaus attraktiver Mix und eins dieser Alben, wo allerlei stilistische Einflüsse in einen weiten, offenen „Mainstream“ fliessen – setzt so gesehen auch ganz gut bei Oliver Jones an, wo es dasselbe Ergebnis mit deutlich modernerem Einschlag gibt.

Es folgt die Gesangsnummer, LeDonne am Klavier, die Band rifft, Waters macht den Louis Jordan – aber mit angemessen brüchig gewordener Stimme. Bald lässt er den Text weg und scattet sich der Melodie entlang, bevor er zum Sax greift. Soli von Alden und Eights mit Locke folgen … und dann geht es mit „Besame Mucho“ weiter, die Rhythmusgruppe im Flow und Waters nicht mehr jumpend sondern mit cremigem Ton und fliessender Phrasierung. Sein Ton ist überhaupt toll, er gestaltet ihn mit kleinen Aufrauhungen, einem Flattern da, etwas Vibrato dort. LeDonne folgt am Klavier, während Alden/May/Locke den Latin-Groove durchziehen (30 oder 40 Jahre früher wären sie für die Soli in einen swingenden 4/4 gewechselt). Waters gestaltet dann sein Solo in enger Abstimmung mit der Rhythmusgruppe – ich vermute, manches ist hier vorgeformt, toll ist es trotzdem. Auch toll ist, wie die Band sich den jeweiligen Solisten ständig etwas anpasst, hinter Alden Druck rausnimmt, leiser wird, damit dessen schöner Ton zur Geltung kommt. Und dann ist nochmal Waters an der Reihe, der eine Lücke für May lässt – Waters sucht nicht nach dem grossen Solo sondern setzt sich einfach auf die tolle Band drauf und prägt das alles mit seinem Charisma, seinem Ton, seinem Flow.

In der Mitte des Programms steht sein Original „I Cried Because I Love You“, von Schaap im Booklet herausgestrichen als eins von Waters‘ damals neuen Stücken – LeDonne ist zurück an der Orgel, und klar: das ist eine Ballade mit einer catchy Melodie und dem Leader wieder mit singendem Ton. Das ist wirklich ein Highlight – und das Stück gehört bis auf ein kurzes Orgelsolo ganz dem Leader. Mit „Callin‘ the Cats“ sind wir wieder im Jump-Blues-Gebiet, bevor mit „I’m in the Mood for Love“, mit 11 Minuten mit Abstand die längste Nummer hier, nochmal eine grossartige Ballade mit Platz für alle geboten wird. Die Themenpräsentation von Waters ist hier wieder eine Masterclass in nuanciertem Spiel. LeDonne (immer an der Orgel ausser in den beiden erwähnten Stücken) spielt ein schönes Solo, bevor Waters an der Reihe ist und noch ein Glanzlicht setzt und später, zwischen den Gitarren- und Bass-Spots, weitere Soli spielt, bevor er das Stück mit einer bestechenden Solo-Kadenz abschliesst – durch solche Abläufe werden in manchen Stücken die strikten Thema-Soli-Thema-Abläufe aufgebrochen, was mir sehr gut gefällt. Zwei kurze Stücke machen den Abschluss: ein letztes Original des Leaders (wie alle ausser den Klassikern) mit dem sprechenden Titel „Jungle Blues“ – LeDonne nochmal am Klavier, der Afro-Groove mitreissend, das letzte Solo von Alden überzeugend – sowie „Misty“ von Erroll Garner mit Schlussansage von Waters, dem anderen Gitarristen Steve Blailock und LeDonne wieder an der Orgel.

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"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #166: First Visit: Live-Dokumente aus dem Archiv von ezz-thetics/Hat Hut Records - 14.10., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba