Antwort auf: 100 beste Jazzalben des Rolling Stone, kommentiert

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ELLINGTON AT NEWPORT
ellington, anderson, cook, nance, terry, jackson, sanders, woodman, hamilton, hodges, procope, gonsalves, carney, woode, woodyard, avakian, keyer (7./8./9.7.1956)

auf platz 31 der liste der größten jazzalben aller zeiten hat es eins der größten fake-alben der musikgeschichte geschafft. was man so natürlich nicht sagen kann. aber der fall ist in vieler hinsicht sehr interessant, weil hier ein momentum rekonstruiert und eigentlich als authentischer beweis für das intakte verhältnis von jazz und (größerem) publikum auf einen altar gestellt wurde, bis es ende der 1990er spruchreif wurde, dass vieles daran nachträglich im studio eingespielt und sowohl studio- als auch liveaufnahmen mit geremixtem publikum zu hören sind. die neue „newport suite“ war für ellington auf der bühne defizitär gespielt und von columbia dokumentiert worden und wurde am nächsten tag nochmal ordentlich im studio aufgenommen (sollte wahrscheinlich eh passieren). und das tenorsaxsolo in „diminuendo and crescendo in blue“, das das publikum buchstäblich aus den sitzen riss, wurde von paul gonsalves ins falsche mikrofon gespielt. also gibt es auf dem album studioaufnahmen mit falschem applaus, um den live-eindruck vorzutäuschen; und live-aufnahmen mit (an der stelle) falschem applaus, um den craze abzubilden, den ein off-mic-statement natürlich nicht mehr vermitteln kann. diese postproduktionsmanöver sind so verständlich wie schamlos. aber trotzdem ist das album natürlich großartig und gehört hierher.

newport, südlich von boston, ist traditionell der sitz des geldadels in den USA. sehr hübsche kulisse, ich bin mal durchgefahren. wie sich 1956 dort das publikum zusammensetzte, kann ich nicht sagen. die erzählung ist, dass es am 7. juli mehrere cool-jazz-acts angehört hatte und dabei wenig begeisterung zeigte. das programm zog sich in die länge, bis um 23:45 Uhr schließlich das ellington-orchestra anfing – mit der „black and tan fantasy“, „tea for two“ und „take the a train“. rückgriff auf vertrautes, kein modernismus. nicht allzu begeistert reagiert man dann auf eine der ambitionierten suiten ellingtons, die auch das album eröffnet. ich finde die „newport festival suite“ ziemlich toll, mit komplexen arrangements als weichensteller für schöne soli, die in viele richtungen weisen: schmelz, hypnose, eleganz, akrobatik, alter schmerz, frische ideen. gehört habe ich allerdings die studioversion, und der merkwürdige applaus zwischendrin überzeugt mich nicht in der annahme, dass das alles so gut ankam, dass der damals nicht allzu erfolgreiche ellington hier schon sein comeback feierte, dass sich das hinreichend vom cool jazz des vorprogramms absetzte. beim hodges-feature „jeep’s blues“ habe ich mir mal den spaß gemacht, nicht die studio-version anzuhören, die auf dem album landete, sondern den neuen mix der tatsächlichen konzertaufnahme, bei der aus zwei mono-versionen (von columbia und dem radiosender „voice of america“, in dessen mikrofon gonsalves später, nein, vorher [kompliziert!], sein berühmtes solo spielen sollte) ein falsches stereo zusammengesetzt wurde: da ist man dann authentisch „live“, und es klingt völlig artifiziell.

was das momentum angeht, 27 chorusse von paul gonsalves, mit klavier-, bass- und schlagzeug-begleitung, so waren ja nicht wenige enttäuscht, als sie den neuen mix hörten. so spektakulär sei das ja gar nicht. klingt auf dem album anders, da schreien erst die musiker, dann das publikum hinein, ab der hälfte fast die ganze zeit tosender applaus, der geldadel flippt aus, der cool jazz ist abgeschüttelt, der jazz hat wieder ein publikum, es wird (augenzeugen berichteten) sogar wieder dazu getanzt! ist jazz nicht eigentlich ohnehin live-musik, dazu da, menschen direkt aus den sitzen zu reißen? geht es nicht um die reaktion auf ort, zeit, klima, stimmung, aus der etwas ungeplant-großartiges entstehen kann? tatsächlich scheint es so gewesen zu sein – und tatsächlich bildet sich das nach aufwendgen fake-maßnahmen auch im dokument ab. was aber das solo angeht: es ist wunderbar und sitzt genau richtig im arrangement, in seiner zeit, im feature für einen bis dahin wenig beachteten saxofonisten. gonsalves fängt in einem sehr engen tonspektrum an, dreht sich ungelöst in einer früh gesetzten spannung, die die band in ihrer minimalistischen begleitung vergrößert. es kommt nicht unbedingt zu einem ausbruch – sondern eher zu einer verabredung: wir machen das jetzt noch eine weile so weiter, bis du, publikum, deinen groove findest. ich musste an einen technoclub denken, in dem auch das einsteigen und durchmachen als versprechen funktioniert. insofern ist das großartige am momentum von gonsalves und ellington, dass sie dieses plateau gespürt und zum glänzen gebracht haben – mit einem leichten anzug, einem sanften drehen der schraube, einem blick in die tanzende menge. „don’t be rude to the musicians“, soll ellington zu george wein gesagt haben, als dieser die überlänge des konzerts signalisierte. jetzt nicht aufhören: nicht, weil noch was tolles kommen wird, sondern weil ein zustand erreicht ist, den man nicht verlassen will.

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