Antwort auf: 100 beste Jazzalben des Rolling Stone, kommentiert

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vorgarten

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LADY IN SATIN
holiday, ellis, johnson, green, davis, waldron, galbraith, hinton, johnson, ockner, green, hofman, katzmann, kruczek, lomask, meinikoff, newmna, rand, sarcer, brecher, dichler, soyer, brown, putman, bank, bodner, penquw, parchley, butterfield, ochner, glow, green, mitchell, bretton, workman, ogerman, townsend, plaut (19.-21.2.1958)

glad | to be unhappy. but | beautiful. easy to remember | but so hard to forget. i get along | without you | very well. you don’t know what love is | until you know the meaning of the blues. in diesen tin-pan-alley-songs wird die gleichzeitigkeit widerstrebender gefühle leicht verpackt und so kultiviert, dass alle was damit anfangen können, ohne es in der tiefe erlebt zu haben. wenn es regnet, scheint auch bald wieder die sonne. immer wieder redet man sich ein, dass man darüber weg ist, und weiß doch, dass das nie passieren wird. in diesen songs gibt es keinen abschluss, kein ende und neuanfang, immer bleibt alles da, was man erlebt hat, als gespenst, schöne erinnerung. die erzählung ist: je mehr erfahrungen man macht, umso reifer geht man mit ihnen um. kalendersprüche um brüche und wunden herum, und die souveränität erlangt man nicht dadurch, dass man etwas hinter sich lässt, sondern im stoßseufzer des wissens um die ewige unlösbarkeit.

wenn man LADY IN SATIN laut hört, hört man holiday zwischen den zeilen tatsächlich immer wieder seufzen. und den schweren atem. und die bewegungen des künstlichen gebisses. und die raue stimme, die nie wieder schön sein wird. im schwankenden rhythmus der songs muss man die angst der krankenschwester im studio mitdenken, dass der star, für dessen gesundheit sie zuständig ist, vom stuhl fallen könnte. es ist ein riskantes manöver, diese stimme, diese stoßseufzer in pop-verpackung singen zu lassen, dabei noch viele songs, die gar nicht zu ihrem repertoire gehören, auf den spuren der perfekten zeitgenoss*innen, sinatra und fitzgerald. ellis und ogerman bauen so viele spuren um das reibeisen herum, dass es fast wie dj culture klingt, wie sie in diesem luxus hin- und herswitchen, ebenen auf- und zuklappen: bass, drums und schlaggitarre, hollywood-streicherwellen, vogelimitatsflöten, raunende bassklarinetten, ein begleitendes jazzklavier, solierende posaunen und trompeten – und im keller schluchzen sich zwei backgroundsängerinnen die seelen aus den leibern. würde man all diese spuren löschen und hätte nur stimme, bass und schlagzeug, wäre der eindruck: albert ayler trio, spiritual unity.

es gibt halbe katastrophen. und es gibt songs, bei denen alles stillsteht. das ornament gerät im exzess auf die schiefe bahn. und die stimme lässt nicht den hauch von sentimentalität zu. manche textzeilen vermitteln einen derartigen grad der vollständigen verwüstung, auf den die komponisten im leben nicht gekommen wären. und wenn die letzte zeile kommt, „i’ll be around | when she’s gone“, spaltet sich das sängerinnen-ich in jemand, der noch da ist und jemand, der immer da bleiben wird, auch wenn das licht ausgeht und das mischpult abgeschaltet wird.

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