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CHET BAKER SINGS
baker, freeman, smith, bond, neel, littman, marable, bock, emig, turetsky (15.2.1954, 23. & 30.7.1956)
wenn ich das richtig sehe, sind die aufnahmen zur originalen 10“-ausgabe die frühesten, die es in der rolling-stone-liste gibt. ich denke aber, es ist das 12“-reissue gemeint, mit 6 weiteren stücken aus zwei sessions von 1956, die interessanterweise auf seite 1 vorgeschaltet wurden. da war die diskussion um die androgyne stimme und das verkomplizierende männerbild, das durch sie entstanden ist, vielleicht schon durch – vielleicht aber auch nicht, denn ich bilde mir ein, dass baker hier tiefer singt bzw. mit freeman zusammen die tonarten tiefergelegt hat, damit er nicht so oft ins verwirrende falsett muss. außerdem kamen 1956 noch die schrägen liner notes des historikers und philosophen (und kriminalschriftstellers) gerald heard dazu, der chet baker als gesellschaftsverträgliche synthese der performertypen „virtuose“, „spezialist“ und „rebell“ zu etablieren (entschärfen) versucht. er wurde dazu auch abgebildet, in denkerpose, hand an der schläfe, freudianischer vollbart. die aufregung um den schönen singenden baker ist auch hier indirekt abzulesen. komplizierte zeiten. wenn man das heute hört, wird unmittelbar klar (wurde es damals vielen wahrscheinlich auch schon), dass baker so singt wie er spielt: die weichen, langen töne, die erst am ende in einem vibrato ausfedern, die einfachen linien, die sich so reizvoll minimal von der originalmelodie, die man im kopf hat, entfernen. wieso haben sie ein männerbild ins wanken gebracht, so dass es wieder stabilisiert werden musste?
er hatte keine ahnung von den texten, die er da singt, hat russ freeman, der pianist und wahrscheinlich auch arrangeur, behauptet. auf william claxtons fotos von der ersten session sieht man eine kommerzielle ausgabe der noten von „the thrill is gone“ auf dem stativ des bassisten carson smith, mit der titelseite aus der broadway-revue „george white’s scandals“, mit aufreizenden flapper-girls aus den frühen 30ern. da kommt das zeug ja her, das baker angeblich nicht tief auslotet. aber wenn man sich anhört, wie er den carmichael-song „i get along without you very well“ singt, blank, fragil, von freemans celesta delikat begleitet, in der zeile „the thrill of being sheltered in your arms“ ins falsett rutschend, dann kann ich mir das emotionaler nicht vorstellen: jedes wort ist klar, nackt, ungeschützt. joão gilberto hat das nicht von ungefähr so übernommen, baker ist prä-bossa-nova.
besonders schön immer wieder der wechsel von trompete zum gesang und umgekehrt, man hört das kleine umschalten, die veränderte körperhaltung, das übersetzen der melodie (nur einmal, in „the thrill is gone“, gibt es die overdub-lösung und man hört beides simultan). die intimität wird dadurch eigentlich noch gesteigert.
am ende merkt der skeptische produzent, dass er zwei neue fan-publika für den jazz erschlossen hat: die frauen und die schwulen. zu letzteren gehörte auch der wissenschaftliche liner-notes-autor heard. zitat: „we’re not all sure, now, that ‚dreams come true‘ – at least those dreams we all grew up with – ‚boy meets girl, boy loses girl, boy gets girl‘ and ‚they lived happily ever after‘. and yet we must keep on hoping that our particular dream will come true.“ komplizierte zeiten.
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