Antwort auf: 100 beste Jazzalben des Rolling Stone, kommentiert

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vorgarten

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‚ROUND ABOUT MIDNIGHT

davis, coltrane, garland, chambers, jones, avakian, laico (26.10.1955/5.6.1956/10.9.1956)

das ist mein zweites jazzalbum überhaupt gewesen (nach AURA, auch von miles), und mir kam es erstmal altbacken vor, es hatte nichts mit meinem teenie-leben in einer westfälischen kleinstadt anfang der 90er zu tun. aber als junger mensch geht man ja anders mit solchen herausforderungen um, die musik setzt sich trotzdem fest und noch heute kann ich jeden ton mitsingen. ich habe es aber nie so recht als album wahrgenommen, „a-leu-cha“, das zweite stück, schien mir immer wie ein ausreißer, es ist ja auch das einzige aus der ersten von drei sessions (und fast 1 jahr vor den letzten stücken aufgenommen) und klingt anders. heute höre ich, wie klug das programmiert ist, mit dem auratischen opener, den beiden interessanten bebopstücken an jeweils zweiter stelle und den medium-swingern dazwischen und am ende.

jazzhistorisch mag man sich dann versenken in die genese dieser band, die zu einer zeit sich so perfekt aufeinander eingespielt hatte, als feste jazzbands eher die seltenheit waren: immer haben sich einzelne im new yorker nachtleben und drogenkonsum verloren, haben die stadt wieder verlassen, um woanders auf die füße zu kommen (und aus dem fokus der öffentlichkeit zu geraten), miles davis war als einziger 1955 fit und clean und new-york-gewappnet (nach einer auszeit in detroit), andere kandidaten atmeten woanders durch (rollins in chicago, adderley in florida), der rest noch im rausch und schon wieder gefeuert, als das album 1957 rauskam. es brauchte disziplin und einen plan, um ein freigeistiges und berauschtes ensemble wenigstens für kurze zeit zusammenzuhalten; dass man dafür kommunenstrukturen baut, wie sun ra, scheint da gar nicht so abwegig.

drei termine in den columbiastudios, über ein jahr verteilt, dazwischen liveauftritte und marathonsitzungen für ein anderes label, und am ende wird daraus ein album gestrickt, dass das lange geplante comeback für den trompeter ermöglicht und den saxofonisten daneben zum neuen star macht. sie sind hier beide fast um die mikrofone gewickelt, nichts strahlt ab, sie gehen direkt vom instrument ins ohr der konsument*innen. anders als auf den prestige-aufnahmen wird der pianist zum hintergrundmusiker, der nur zum solo nach vorne geholt wird, obwohl er eigentlich für das glitzern in der band sorgt. auch das schlagzeug ist weit weg von der lautstärke und präsenz, die es live hätte. aber das stört nicht, weil sie so präzise ineinanderfließen, dass auch der hintergrund leuchtet. so viel arbeit am zusammenfügen, am binden eines fragilen gebildes, und dann schimmert da doch nur der leader auf dem cover im rotlicht, vor dem er in die innere emigration der konzeptarbeit zurückgezogen scheint. die harte arbeit im business wird unsichtbar hinter dem image des verletzlichen rebellen, der sich seiner selbst sicher ist. und deswegen landet auch dieses album in solch einer liste, und nicht eins, dass „workin'“ heißt.

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