Antwort auf: 100 beste Jazzalben des Rolling Stone, kommentiert

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friedrich

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vorgarten43 THE INDIVIDUALISM OF GIL EVANS evans, coles, glow, royal, mucci, cleveland, studd, rehak, alonge, watkins, cohen, corado, buffington, northern, barber, shorter, richardson, dolphy, lacy, tricarico, block, bushell, ross, maxwell, burrell, galbraith, peacock, chambers, hinton, davis, tucker, jones, johnson, taylor, van gelder, simpson (9/1963, 6.4.1964 & 9.7.1964)
der „song vom nein und ja“, auch als „barbara-song“ bekannt, kommt hier nicht als kokette selbstermächtigung daher, sondern als tieftraurige weise, von harfe und altflöte in watte gepackt, mit ahnungsvollen akkorden, die sich langsam lösen. und gil evans spielt nach der melodie blues-akkorde, verschiebt das lied zum mood. unfassbar detailreich breitet sich das von da aus, mit einem leichten marschrythmus im rubato (elvin jones) und einem fantastischen tenorsaxsolo von wayne shorter, das aus dem nebel auftaucht und wieder darin verschwindet. (…)

Sehr schön beschrieben – aber für diese Musik, die sich beinahe in den gasförmigen Aggregatzustand aufzulösen scheint, fast noch zu harte Worte. Aber sehr anregend. Guter Anlass, da anzusetzen.

Habe mir die Gil Evans Interpretation des Barbara Songs inzwischen ein paar mal aufmerksam angehört. Wenn ich es nicht schwarz-auf-weiß hätte, würde ich nicht glauben, dass die Vorlage ein Lied aus der Dreigroschenoper ist. Evans scheint die ursprüngliche Komposition als Ausgangspunkt genommen aber sie dann durch einen Filter nach dem anderen geschickt zu haben, bis das Original eigentlich nicht mehr zu erkennen ist. Eine fast vollständige Metamorphose. Da erkenne ich keinen Song mehr. Ich höre farbige Klangwolken, die sich langsam ausbreiten, vor- und hintereinander schieben und miteinander mischen, hier und da verdichtet sich etwas in Form eines Solos auf Sax oder Flöte und mit dem Klavier blitzen ein paar funkelnde Kristalle auf. Schichten von Klang in ungewöhnlichen dunklen Pastelltönen. Bass und drums ganz weit unten verbinden das nur noch locker mit festem Boden.

Und sie scheinen das auch nur noch locker mit „Jazz“ zu verbinden. Das ist doch auch eher ein Orchester als eine Big Band. Gil Evans beruft sich in den liner notes von The Individualism … auch auf die französischen und vor allem spanischen Impressionisten – von denen ich natürlich keine Ahnung haben. Wenn das nicht so eine Schwermütigkeit und so einen Detailreichtum hätte, könnte man das auch als ambient music missverstehen. Man könnte es auch mit Miles Davis` Requiem für Duke Ellington He Loved Him Madly vergleichen. Und ich frage mich, was Gil Evans gemacht hätte, wenn ihm elektronische Klangerzeuger zur Verfügung gestanden hätten.

produzent creed taylor wird sehr genau hingehört haben – für sein späteres eigenes label ist das hier die blaupause, und die trademark-altflötentöne in den sebesky-arrangements hat jemand vor ihm erfunden. „i write popular music.“ (gil evans)

Das ist ein erstaunlicher und interessanter Gedanke. Wäre ich nicht drauf gekommen, aber erscheint irgendwie plausibel.

Apropos spanische Einflüsse, spanische Titel, Las Vegas Tango, El Toreador, Moods, „ahnungsvolle
Akkorde“: Manchmal fühle ich mich bei Gil Evans an einen Italo-Western erinnert. An der Grenze zu Mexiko, die Sonne brennt erbarmungslos und die Luft flimmert, am Horizont nähert sich in einer Staubwolke eine Gruppe Desperados …

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“There are legends of people born with the gift of making music so true it can pierce the veil between life and death. Conjuring spirits from the past and the future. This gift can bring healing—but it can also attract demons.”                                                                                                                                          (From the movie Sinners by Ryan Coogler)