Antwort auf: Jazz aus Südafrika: Jazz Epistles, Moeketsi, McGregor, Dyani, Pukwana, Feza, Masekela etc.

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Gary Windo – His Master’s Bones (Cuneiform, 1996) / Anglo American (Cuneiform, 2004) / Gary & Pam Windo – Avant Gardeners (Reel Recordings, 2007)

Noch ein Nebengeleise: Gary Windo kommt am 7. November 1941 in Brighton zur Welt. Luftangriffe 1944, Vater Kampfpilot, lebenslanges Interesse an Kriegsflugzeugen und an Mechanik. Die jungen Eltern beides Musiker: Der Vater leitet eine 20köpfige Akkordeon-Band, in der die Mutter am Klavier mitwirkt. Gary wächst oberhalb des elterlichen Musikladens auf, wo Basie, Ellington oder Parker lief … früh beginnt er, Akkordeon und Drums zu lernen, mit sechs der erste Gig als Drummer mit der Band des Vaters, mit zwölf kriegt er eine Gitarre und entdeckt Rhythm & Blues und Rock’n’Roll. In den späten Fünfzigern reist er mit der britischen Handelsmarine, 1958 in Australien wechselt er zum C-Melody Sax und spielt in der Band der Handelsmarine. 1960 studiert er in den USA mit Warne Marsh und Lennie Tristano Saxophon und Musiktheorie, 1963 taucht er in Tommy Potters Band in NYC auf, spielt auf Jam Sessions und bei Workshops, zum Beispiel mit Shafi Hadi. Tourt auf dem chitlin circuit mit Rhythm & Blues-Bands und entwickelt sich musikalisch weiter. Er hört Platten und Konzerte seiner Vorbilder: Coltrane, Shepp, Ayler … und Junior Walker (mit dem er 1992 in Woodstock spielen sollte), 1966 führt ein Jam zu einer kurzen Mitgliedschaft bei der Butterfield Blues Band. 1967 heiratet er Junie Field aus Barbados, die bei einer illegale Abtreibung stirbt. Heroin, Verhaftung, ein Jahr in Rikers Island. 1969 wir der nach England deportiert, kehrt nach Brighton zurück und trifft seine Schulfreundin Pamela Ayton wieder. Rhythm & Blues Bands in Pubs, Ausflüge nach London, Gigs im Ronnie Scott’s mit Johnny Griffin, Chick Corea, UK-Tour mit Jimmy Ruffin, Jam-Sessions (einmal mit Jack Bruce, Mitch Mitchell, Brian Auger und Graham Bond im Roundhouse).

1970 ziehen Gary und Pam mit deren beiden Söhnen nach Nordlondon und die Kunde von der Ankunft eines neuen, wilden Saxophonmanns macht die Runde. Der stösst – und ich komme zum Punkt – zur Brotherhood of Breath von Chris McGregor sowie zu Keith Tippetts Centipede. Symbiosis entsteht – mit Mongezi Feza, Nick Evans (tb), Steve Florence (g), Roy Babbington (b) und Robert Wyatt/Louis Moholo (d). Ein 30sekündiges Duo von Windo/Feza, „Ntu“ (Windo) öffnet die Compilation „His Master’s Bone“ und das fast zwölfminütige „Standfast“ mit der ganzen Band (Wyatt am Schlagzeug) ist auf „Anglo American“ zu finden – die Band das Ergebnis langer Gespräche von Windo und Wyatt, „discussing ways of making the then new music more available“. Die beiden, die 1970 zusammen nach London zogen und anfangs zusammen wohnten, „came to the conclusion that Robert’s Soft Machine following should be shown something new“ (Booklet von „Anglo American“, für das Pam Windo die Kommentare zu den Stücken schrieb – einen weiteren Text gibt es hier nicht nochmal). Jetzt explodiert Windo förmlich auf der Szene und spielt Anfang der Siebziger mit so ziemlich allen und taucht bei den einschlägigen Jam Sessions auf, auch im Peanuts Club oder dem Country Club, spielt mit Ginger Baker’s Air Force, John McLaughlin, Dudu Pukwanas Spear und lädt auch Musiker zu sich ein für Sessions.

(Windo ca. Ende der Siebziger oder Anfang der Achtziger, von „Anglo American“)

Mit der BoB tourt er durch Deutschland, es gibt im Juli 1971 eine Symbiosis Supersession, bei der auch Pukwana, Harry Miller und ganz viele Engländer mitwirken, die hier schon vorgekommen sind (Charig, Evans, Skidmore, Tippett…). Windo wirkt beim zweiten Album der BoB mit (klick) und bei späteren Tours (klick – der „Funky Boots March“ aus Willisau, der das erweiterte CD-Reissue beschliesst, ist auch auf „His Master’s Bones“ zu finden), tritt daneben mit Ray Russell auf („Secret Asylum“ von 1973 u.a. mit Harry Beckett, 2007 auf CD bei Reel Recordings wieder erschienen, letztes Jahr digital bei Cuneiform). Mit Feza, Russell und Alan Rushton entsteht das Gary Windo Quartet, mit Hugh Hopper nimmt er „1984“ (CBS, 1973) auf, mit Johnny Dyani ist er auf „Tes Esat“ von Alan Shorter dabei (America, 1971 – ich hatte völlig vergessen, dass Dyani dort mitspielt) und mit Miller/Moholo bildet auch er ein Trio (wie es Mike Osborne ebenfalls tat), das bei allen Gigs „Ghosts“ von Ayler spielte. Mit der Gospel-Sängerin Doris Troy spielt er einen Gig im Ronnie Scott’s (am einen Abend singen seine Stiefsöhne, 9 und 7, bei der Zugabe mit) und ein paar Auftritte in Tunis, die Pam organisiert hatte – und die Sängerin haut mit der Gage in die USA ab und lässt ihre gestrandete Band ohne Geld sitzen. Windo bildet dann mit Feza die Jazz-Funk-Band „I Dogou“, um die Sängerin Norma Green in der Schweiz und Italien zu begleiten – aber auch die haut mit dem Geld und lässt ihre Band sitzen.

Dann „Rock Bottom“ mit Wyatt (und Feza) und dessen Drury Lane Comeback-Konzert (1974 – Feza ist auch hier dabei), gefolgt von „Ruth is Stranger than Richard“, die Wiedervereinigung von Centipede (Auftritt bei den Nancy Jazz Pulsations, 1975), ein Gig mit Pam und Nick Mason. In den Jahren darauf bessert Windo sein mageres Einkommen als Musiker damit auf, dass er Masons Autosammlung repariert und pflegt und fährt wohl auch Lastwagen. Windo spielt mit Moholos Culture Shock (man darf hoffen, siehe Ogun vor einem knappen Jahr auf FB), er wird zum regular bei den Sessions im 100 Club und spielt dort mit Pukwana, Osborne, Dean, Evan Parker, Charig, Evans, Dyani, John Stevens usw. Die eigenen „Steam Radio Tapes“ entstehen (1976-78), „Hoppertunity Box“ von Hugh Hopper, das Baden-Baden Free Jazz Meeting (zwei Stücke auf „His Master’s Bones“, darunter eine von Windo arrangierte Version von Fezas „You Ain’t Gonna Know Me, ‚Cause You Think You Know Me“ – aber wie so oft reden hier die Weissbrote – und Bob Stewart – über die Südafrikaner statt mit ihnen: Leimgruber, Mantler, Rudd, Mangelsdorff, Dauner, Roan, Hopper, Stieff, Romano, Vesala).

Von einer Session im Mai 1976 aus dem Peanuts Club stammt „Take Off“ von Gary Windo & Friends auf „Anglo American“. Hier hören wir  eine der schon erwähnten spontanen Bands aus BoB-Musikern: Dudu Pukwana (as), Windo (ts), Marc Charig (cor), Nick Evans (tb), Frank Roberts (elp), Jane Robinson (vc), Harry Miller (b) und Louis Moholo (d). Zum Stück gibt es im Booklet ein Zitat von Gary, das auch nochmal die Location bestätigt, bei der ich bisher nicht ganz sicher war (27 Wormwood St., gleich neben der U-Bahn-Station Liverpool): „This small club above the King’s Arms pub behind Liverpool tube station was the place of so much fantastic music. Every Friday night something exciting would happen and I played there many times. This night was typical of the club’s feeling, and this band was virtually the Brotherhood of Breath.“ – Ein tolles Stück, das den Groove und den Kollektivgeist der BoB aufleben lässt, aber in einer jazzigeren, weniger afrikanisch angehauchten Atmosphäre. Das gestrichene Cello ist gut zu hören und bringt eine neue Facette in den Mix (das E-Piano hört man hingegen leider kaum, das ist eine Amateur-Aufnahme). Natürlich ist das Stück auf der CD gelandet, weil Windo hier ein Solo spielt – er verbindet auf so typische Weise Free und Gospel … in den Fussstapfen von Albert Ayler natürlich. Dabei umgarnen ihn Charig, Evans und Pukwana, das Cello rifft mehr oder weniger auf einem Akkord – und wenn Charig zum Solo ansetzt, bricht das Stück leider hart (ohne Fade-Out) ab.

Aus ungefähr der Zeit ist auf „Avant Gardeners“ ein Quartett von Gary und Pam Windo (p) mit Miller und Moholo zu finden, „Maiden Stone“, aufgenommen im Herbst 1976 bei einem Konzert im Maidstone College of Art in Kent – die einzige für diesen Thread relevante Aufnahme auf dem Album, siebeneinhalb Minuten lang. Das ist ein sehr freies Stück mit einer entfesselten Bass-Drum und einem rasenden Miller, Pam spielt Cluster am Klavier, Gary kreischt darüber – wuchtiger Free Jazz. Das Foto auf dem Cover der CD ist mit „Maidstone, 1976“ überschrieben, Infos gibt es leider kaum, aber ein Zitat von Gary, datiert auf 1984: „Pam Windo and I loved to work together. She was and is one of the greatest supporters of my madness. And though she has had much heartbreak trying to help me, our musical collaborations have always been beautiful. This track is to say, ‚Thank you Pam.'“ – Die Aufnahmen auf der CD (ein Duett aus dem Maidstone College, vermutlich vom selben Auftritt, und dann dazwischen vier Stücke vom Februar 1974 im Trio mit Frank Perry, perc – insgesamt nur 39 Minuten auf der CD, aber von Windo nimmt man, was man kriegen kann) hat Gary Windo mit einem „consumer quarter Reel-to-Reel Recorder and two stereo microphones and 3&3/4 IPS tape speed“ gemacht, wie Michael King auf die Hülle geschrieben hat.

1978 dann die Carla Bley Band, Tour durch die USA, Windo eine Schlüsselfigur in der tollen Musik von Carla: „He easily breathed her musical spirit and could always be counted on to play off her dry wit“ und „whose lunatic between song antics had everyone either overjoyed or outraged“, schreibt Mike King in im Booklet zu „His Master’s Bones“, dessen ersten Teil mit dem Titel „Gary Edgar Windo: A Concise Career Chronology“ ich hier schamlos plündere – den zweiten Teil mit den Track-Infos und -Kommentaren gibt’s bei Discogs). 1979 ziehen die Windos nach New York – der Frachter mit den ganzen Tapes und kentert allerdings mitten im Atlantik in einem Sturm. Die zweite US-Tour mir Bley endet in Kalifornien, wo Haden und Don Cherry für ein Liberation Music Orchestra-Konzert dazu stossen. CBGBs mit Fred Frith, Carnegie Hall mit der Carla Bley Band, Umzug nach Woodstock auf der anderen Seite der Wiese von Bley und Mantler. Job beim Creative Music Studio neben Haden, Cherry, Blackwell, Coxhill, Frith, Hemphill und natürlich Karl Berger …

Pam Windo hatte nicht in die USA ziehen wollen – aber sie war es, die den Gig von Carla Bley im Dingwall’s in London eingefädelt hatte, der alles ins Rollen brachte. „I remember her letter arriving in London, asking Gary to tour the U.S. I had never wanted to visit, let alone live in America, but knowing how much he wanted to go, I went ahead of him to New York, to figure out how to get him back there. By pure luck, when I telephoned the Musician’s Union, one of the top guys answered, and told me to go over and he’d help me fill out the visa application. That’s how we came to live in America.“ – Und es begann mit „staying first with a  new friend Nancy in Chappaqua, and then with John Clark (trumpet player [eigentlich Horn, oder?] with Carla Bley) until we found our own way up to a log cabin in Willow, NY. Gary loved Carla’s band, a perfect vehicle for his brilliant zaniness. It was a family affair, living in the woods near Carla’s studio, with the boys, Simon and Jamie getting up on stage at the Public Theater introducing the orchestra, and in the south of France, playing percussion. She would always cook meals for her musicians, saying that cooking and composing were closely tied!“ (Pam Windo im Booklet von „Anglo American“).

In den Achtzigern hunderte Sessions aller Art, Auftritte mit NRBQ, er wirkt bei einem Solo-Saxophon-Konzert neben John Zorn, Ned Rothenberg und George Cartwright im Soundscape mit, komponiert für und spielt mit der Saturday Night Live Band. 1981 erste schwere Krankheit (Darmperforation – wie ich vor einem Jahr), Krankenhaus, doch es geht bald weiter, u.a. mit den Psychedelic Furs (US-Tour im November), in der Zeit auch viele Aufnahmen mit Todd Rundgren u.a. für „That’s the Way I Feel Now…“, die grosse Monk-Hommage (Monk  und Sun Ra spielen auch bei NRBQ eine Rolle). 1983 die Scheidung von Pam Windo, Gary zieht bei Hal Wilner ein. 1984 heiratet Windo die junge Ellen Liberace, Pornodarstellerin – unter dem Alias „Siobhan Hunter“ – mit berühmtem Onkel). Das Paar zieht nach L.A., Windo schreibt und spielt auch Musik für Pornofilme seiner Frau.

Anfang 1985 die Rückkehr nach New York, neue Band, Mitwirkung beim Kurt Weill-Tribute-Album „Lost in the Stars“ und Tour mit Rundgren. Die Gigs sind zu viele, um sie zu erwähnen, aber in den Jahren gibt es mal ein Gary Windo Orchestra und immer wieder Gigs mit der Gary Windo Band oder dem Gary Windo Quartet, auch ein paar eigene Alben („Dogface“, 1982; „Deep Water“, 1988), Gigs mit Bongwater, Mitwirkung bei Allen Ginsbergs „The Lion For Real“ (1989), Knitting Factory mit der Gary Windo/Frank Lowe Band mit Walter Bishop Jr. und Frank Butler im Sommer 1989 (krasses Line-Up!). 1990 ein Jugendtraum: Windo nimmt Flugstunden, beginnt mit Segelflügen. 1992 spielt er mit Junior Walkers Band in Woodstock, mit den Heavenly Humminbirds (die Gospelmusik zieht sich ja durch, zum Glück hörte er früh auf, für Sängerinnen zu spielen, die mit der Kasse abhauten – wobei Norma Green wohl sie hier war, keine Gospelsängerin also). Allerdings geht es mit der Gesundheit bergab … was Windo nicht von der Westküsten-Tour mit NRBQ im Juli 1992 abhält. Letzter Auftritt im Slim’s in San Francisco, Asthma-Attacke auf dem Heimflug, Tod am 25. Juli durch Herzstillstand nach einer weiteren Asthma-Attacke. Als Freunde seine Mutter erreichen, stellt sich heraus, dass die schon seit ein paar Tagen Gary zu erreichen versucht, um ihm mitzuteilen, dass sein Vater gestorben ist.

Das ein irre volles Leben im Schnelldurchgang – mit mässig viel Bezug zum Thema hier, aber im Jahrzehnt der Rückkehr nach England (1969-1979) eben doch immer wieder … und Windos Stimme ist z.B. bei der Brotherhood of Breath wenigstens so eigenwillig wie die von Evan Parker.

Liner Notes von Gary zu manchen der Stücke gibt es, weil „His Master’s Bones“ noch zu Lebzeiten als Dokument seiner Karriere konzipiert worden war. Auch ein paar Stücke von „Anglo American“ waren dafür vorgesehen.

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