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Meine gestrige Varda-Strecke … ich bin echt begeistert von der DVD-Box, auch wenn die Präsentation echt unübersichtlich ist (manche Kurzfilme muss man im Kleingedruckten beim Bonusmaterial suchen, auch wenn es separate DVDs mit Kurzfilmen und Gerettetem und so gibt) … ich habe eine Liste gemacht, ungefähr chronologisch, mit Angabe, was auf welcher DVD zu finden ist. Gestern war Tag 6 und ich war von 1966 bis 1975 unterwegs – ein ziemlicher Trip, inkl. Ausflug nach Hollywood, wo Jacques Demy „Model Shop“ drehte … und Varda gleich drei Filme, zwei kurze Dokus und einen experimentellen Spielfilm mit der grossartigen Shirley Clarke.
Elsa la rose (1966) – eine Dokumentation über Louis Aragon und Elsa Triolet, Michel Piccoli liest Gedichte, die Aragon für Elsa schrieb.
Oncle Yanco (1967) – der erste Film aus den USA dokumentiert einen Besuch – inkl. des unmittelbar nach dem Kennenlernen nachgestellten Kennenlernens (2. Bild) – beim abtrünnigen Bruder von Vardas Vater, dem Künstler Jean Varda, genannt Yanco, der in Sausalito am Meer lebt und mitten in einer Kommune anderer Aussteiger eine Art Hippie-Patriarch wurde … er fährt mit den jungen Leuten aufs Meer, lässt sie auf dem Dach seines Hausbootes herumsitzen … und zeigt seine von orthodoxer Ikonenmalerei geprägte Kunst (die Familie war griechischer Herkunft, Agnès – die die Sprache nicht kannte – fragt Yanco, wie ihr Name denn auff Griechisch laute: „Agni“, was „rein“ oder „heilig“ heisst, Inês oder Inés sind weitere Varianten aus Westeuropa). Er hatte Henry Miller 1943 zum Umzug nach Big Sur überredet und der revanchierte sich mit „Varda the Master Builder“ … und auch in Anaïs Nins „Collage“ taucht Varda auf. Ein ziemlich witziger Film … und wie alle diese Filme, egal wie kurz, wie ernst, wie lang, wie witzig: verdammt gut gemacht.
Black Panthers (1968) – dann dreht Varda in Oakland während der Demonstrationen nach der Verhaftung von Huey P. Newton eine kurze Dokumentation über die Black Panthers, in der die üblichen kriegerischen Bilder (Märsche, Versammlungen, Reden) mit Bildern über die anderen – am Ende vielleicht wichtigeren – Aspekte der Panthers vereint werden: die Community-Arbeit der Frauen im Hintergrund. Neben Newton, Carmichael usw. wird auch Kathleen Clever (erste zwei Fotos) ins Bild gerückt.
Lions Love (1969) – im Zentrum steht hier eine ménage à trois, die in einem Haus in Beverly Hills lebt: Viva, Jerry (Gerome Ragni) und Jim (James Rado): einmal Warhol, zweimal „Hair“. Dazu kommt Shirley Clarke, die aus New York anreist, um einen Film in Hollywood zu drehen – sie wird von Carlos begleitet (Clarens) – und bei den dreien unterkommt. Clarke unternimmt später einen Suizidversuch, nachdem der Studioboss ihr das Recht auf den final cut verweigert … während gleichzeitig – mittels Fernsehgerät im Wohnzimmer – Robert F. Kennedys Kampagne und dann seine Ermordung läuft, während Viva aus New York einen Anruf kriegt und vom Anschlag auf Andy Warhol hört … natürlich während gerade die Ambulanz für Shirley Clarke gerufen wird … ein chaotischer und doch tiefenentspannter Film, in dem Varda auch mal selbst vor die Kamera tritt, nachdem Clarke die Szene, in der sie Schlaftabletten schlucken soll, zunächst nicht spielen will. Es sei schliesse ihre Idee, sie solle die Szene doch selbst drehen, meint Clarke – deren Bluse Varda dann trägt, bevor Clarke einwilligt und der Film weitergehen kann …
Nausicaa (1970) – ein fast verschwundener, vom französischen Staat ausgelöschter Film, wie es scheint … Varda drehte zurück in Frankreich einen Langfilm, der noch viel stärker Spielfilm-Elemente und Dokumentarisches vereint: sie erkundet die Szene der vor dem Militärputsch aus Griechenland geflohenen Exilanten, es gibt rein dokumentarische Interviews (inkl. eingeblendeter Papier der Sprechenden), dazu aber auch eine Art Liebesgeschichte um einen älteren Griechen, der bei zwei Studentinnen unterkommt und die eine dieser Studentinnen, die Angès heisst – wie Varda – griechischstämmig ist, aber die Sprache nicht kennt. Sie plant eine Reise ins Land, was zu satirischen Einspielern aus der Tourismuswelt inkl. Strassenbefragung in Frankreich (was halten Sie von Griechenland/den Griechen, waren Sie schon dort, würden Sie unter den Umständen wieder hinreise? … aber klar doch, als Tourist*in gehen mich innenpolitische Probleme ja schliesslich nichts an). Der Grieche reist dann auch noch durchs Land, um bei griechischen Fabrikarbeitern Werbung für den Widerstand zu machen … da auf der DVD keine Untertitel vorhanden sind (auf YT schon, aber den Film muss ich jetzt echt nicht gleich nochmal sehen) und die Tonspur qualitativ so bescheiden wie das überlebende Bildmaterial, zog das teils etwas an mir vorbei … Varda ist auch hier wieder selbst zu sehen, im Gespräch mit einem der Griechen, die im Film mitwirken, und Gérard Depardieu hat einen kurzen Auftritt als renitenter Bücherdieb, der der am Seine-Ufer dösenden Agnès ein paar Kunstbände entwendet.
Gerettet werden musste der Film, weil allem Anschein nach nach einem Screening plötzlich alles Material des fürs frz. Staatsfernsehen gedrehten Films konfisziert war. Varda erhielt nie einer Erklärung, doch dank einer Vorführung in Belgien befindet sich in der belgischen Cinemathek eine Kopie, von der die DVD für die Intégrale erstellt wurde. Die Vermutung ist, dass die kritische Darstellung Griechenlands bei einem geplanten Verkauft von Kampfjets ans Militärregime hinderlich hätten sein können und der Film darum aus dem Verkehr gezogen wurde.
Daguerréotypes (1975) – das grosse Highlight des langen Heimkino-Tages gestern: Vardas Portrait eines kurzen Stückes ihrer Strasse, der Rue Daguerre im 14. Arrondissement von Paris. Varda und ihre Kamerafrau Nurith Aviv verstecken sich in den Läden der Händler und Handwerker und warten mit den Inhaber*innen auf Kundschaft, die die Kamera in der Regel vollkommen ignoriert. Aviv erweist sich dabei als wahre Meisterin der spontanen Plansequenz – der Film ist voller unglaublich gut gemachter Szenen – auch das altmodisches, solides Handwerk (solid nicht als müde Metapher für „mittelgut“ wie heute, sondern im Sinn von langlebig – kein Krempel, kein AI-Sludge). Als verbindendes Element wird der Auftritt eines Magiers im Café verwendet, bei dem alle Protagonist*innen dabei sind (überredet von Varda, wie es scheint). Diese werden auch befragt: Woher kommen sie? Wann sind sie an die Strasse gezogen? Weshalb? Wovon träumen sie? Und das alles wird – natürlich – nicht chronologisch zu einem wunderbaren, sehr berührenden Film montiert – der in seinen Bildern eigentlich schon die ganze Wes-Anderson-Welt vorwegnimmt, einfach mit echten Dekors. Grossartig!
Réponse des femmes (1975) – ein Kurzfilm, der auf der DVD als „ciné-tract“ bezeichnet wird: eine Gruppe von Frauen spricht 1975 über ihre Körper, die Körperwahrnehmung, die Schizophrenie des Patriarchats im Umgang mit der Unterdrückung der Frauen – und ihrer Körper, die sie zugleich einsetzen aber auch verstecken sollen. Sehr treffend, und leider sind wir 50 Jahre später höchstens ein paar Millimeter weitergekommen. Was frisch und frech wirkt, kommt als Bumerang in der Gegenwart mit voller Härte zurück.
Plaisir d’amour en Iran (1976) – der letzte Kurzfilm von gestern, wie „Réponse…“ beim Bonusmaterial der DVD des nächsten Langfilms zu finden, „L’une chante, l’autre pas“ (1977), aus dem das ev. stammt? Jedenfalls taucht eine Einstellung aus dem Innenhof (linkes Bild) auch im Trailer für den Film auf … dass aus den kurzen und langen Filmen allmählich ein Bezugsnetz entsteht, an dem Varda immer wieder ansetzt, wird zu dem Zeitpunkt sowieso klar. Hier wird Liebe und Erotik mit dem Ornament der sakralen persischen Bauweise zusammengebracht … teils auch etwas plump, aber wenn die Kamera über reicht verzierte Mosaikdecken gleitet, ist die Farbigkeit der Bilder zumindest frappant.
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