Antwort auf: 100 beste Jazzalben des Rolling Stone, kommentiert

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friedrich

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vorgarten53

NIGHT TRAIN
peterson, brown, thipgen, granz, valentin (15. & 16.12.1962)
was swing mit gleichmaß zu tun haben könnte – darüber habe ich bisher auch noch nicht nachgedacht. hier ist mit der musik programmatisch eine fahrende maschine verbunden, die über schienen rattert, deren räder sich gleichmäßig bewegen, und die in gleichen abständen dampf aus dem kessel stößt. (…)

Die Meinung eines Fahrgastes: Ich bin kein Modelleisenbahner, aber auf diesem Cover erkenne ich keine Dampflokomotive sondern eine Diesellok. Wahrscheinlich so ein Kraftpaket mit 1800 PS, das wohl bis in die 60er Jahre die am weitesten verbreitete Lokomotive in den USA war. Passt eigentlich auch besser zu der Musik auf dem Oscar Peterson-Album, finde ich. Da gibt es keine glühende Kohle, keinen Dampfessel unter Hochdruck, da wird kein schwarzer Qualm ausgestoßen, da stieben keine Funken aus dem Schornstein. Die Lok setzt sich nicht schwerfällig mit lautem Wuff-Wuff-Wuff-Geräuschen, Dampfpfeife und durchdrehenden Rädern in Bewegung. Stattdessen werden die Diesel gezündet und fangen an zu tuckern, die Ventile klappern im Takt und der Lokomotivführer steuert den Zug ohne Schweiß und Ruß zum Zielbahnhof. Die Musik wirkt eigentlich sogar etwas so wie eine feinmechanische Konstruktion, die mit Nähmaschinenöl geschmiert mit der Präzision eines Uhrwerks funktioniert.

Eigentlich hat die Musik auf Night Train auch nur mit dem Titel des namensgebenden Stücks etwas mit der Eisenbahn zu tun, oder? Ansonsten bekannte Gassenhauer, technisch perfekt, flüssig und elegant gespielt, überwiegend im gut verdaulichen 3-4 Minuten-Format. Sehr schön, aber auch nicht besonders aufregend. Dagegen ist nichts zu sagen und ich verstehe, warum dieses Album so erfolgreich war. Aber wir sprachen an anderer Stelle über The 3 Sounds, die gemeinhin als etwas leicht und gefällig gelten. Deren Aufnahme von Things Ain’t What They Used To Be klingt im Vergleich zu Oscar Petersons Version wie ein fauchendes wildes Biest.

Es gibt in der amerikanischen populären Musik sicher unzählige Lieder und Instrumentals, die Züge, Autos, vereinzelt auch Flugzeuge und Schiffe, Straßen und Bahnlinien zum Thema haben. Unterwegs sein, on the road, ob zurück in die alte Heimat oder ins Ungewisse. Könnte man ein eigenes Thema draus machen.

Das abschließende Hymn To Freedom erzeugt dann tatsächlich etwas Pathos und Extase. Amen!

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“There are legends of people born with the gift of making music so true it can pierce the veil between life and death. Conjuring spirits from the past and the future. This gift can bring healing—but it can also attract demons.”                                                                                                                                          (From the movie Sinners by Ryan Coogler)