Antwort auf: 100 beste Jazzalben des Rolling Stone, kommentiert

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friedrich

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SIN & SOUL
brown jr., butterfield, wilder, solde, bodner, levinsky, levister, leighton, morris, cernett, arnone, barksdale, carroll, duvivier, benjamin, rosengarden, devens, johnson, francis, hamm, ? (jun/aug/oct 1960)
(…)

Ein etwas später Kommentar von mir dazu. Oscar Brown hatte ich entdeckt, als ich recherchierte, wer den Text zum Work Song verfasst hatte. Wenig später fiel mir diese LP im 2nd hand shop in die Hände.

Oscar Brown war Bühnenautor, disc jockey, Songwriter, Sänger, versuchte sich sogar mal als Politiker und war vorübergehend Mitglied der Kommunistischen Partei. Ich kenne nur dieses eine Album von ihm und da höre ich ihn vor allem als show man, der in verschiedene Rollen schlüpft. Angehöriger einer chain gang, obercooler Angeber und gekränkter Liebhaber, Sklavenauktionator, Erzähler einer Fabel, herunter gekommener Säufer, Vater eines kleinen Sohnes und manches andere mehr. Einiges davon ist bitter, einiges kaum unterschwellig politisch, einiges nachdenklich, einiges liebevoll und zärtlich, einiges ist lustig und einiges sogar richtig albern. Das Elend eines aus Not kriminell gewordenen Strafgefangenen, der obercoole Angeber, der in jämmerliches Heulen ausbricht, als ihn seine Frau verlässt und am Ende versehentlich seinen Hund erschießt, der Vater der seinen neugierig-verspielten Sohn beobachtet („Can I have dat big elephant over dere?“), der Ehemann, dem seine verpennte Ehefrau auf die Nerven geht, die Wirklichkeit und Hoffnung eines Afro-Amerikaners – das alles steht unvermittelt nebeneinander. Einiges muss man aus afro-amerikanscher Perspektive lesen, einiges kann man, einiges muss man nicht unbedingt. Ein bisschen ist das wie eine Revue, die thematisch wild hin und her springt. Gemein ist allen Aufnahmen Oscar Brown als charismatischer performer mit mal knackiger, mal filigraner musikalischer Begleitung. Selbst in der Rolle des Sklavenauktionators ist er entertainer, jedoch mit bitter-bösem Humor – so dass einem als Hörer das Lachen im Halse steckenbleibt: „She’s healthy and strong and well equipped / Make a fine lady’s maid when she’s properly whipped“

Oscar Brown hat auf Sin & Soul eigentlich nur 3 damals bereits existierende Jazzinstrumentals betextet, Work Song, Dat Dere und Afro Blue (und vielleicht noch Sleepy mit der Musik von Bobby Bryant), die anderen Stücke stammen komplett von ihm. Brown Baby wurde später wohl noch von einigen anderen aufgenommen. Wer das so vielfältig und passend – Gospel, Blues, Jazz, etwas Latin, alles drin – arrangiert hat, weiß ich nicht. Ein mindestens unterhaltsames, oft bewegendes und berührendes Album. Allein Work Song, Dat Dere, Brown Baby und Afro Blue sind schon den Eintritt wert.

Das Konzept des signifying verstehe ich aber nicht.

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„Etwas ist da, was jenseits der Bedeutung der Worte, ihrer Form und selbst des Stils der Ausführung liegt: etwas, was direkt der Körper des Sängers ist, und mit ein- und derselben Bewegung aus der Tiefe der Stimmhöhlen, der Muskeln, der Schleimhäute, der Knorpel einem zu Ohren kommt, als wenn ein und dieselbe Haut das innere Fleisch des Ausführenden und die Musik, die er singt, überspannen würde.“ (Roland Barthes: Die Rauheit der Stimme)