Antwort auf: 100 beste Jazzalben des Rolling Stone, kommentiert

#12498559  | PERMALINK

vorgarten

Registriert seit: 07.10.2007

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danke @latho!

so langsam kommt man hier ja in den überraschungsarmen bereich von alben, die (fast) jede*r kennt und zu denen auch schon alles gesagt und geschrieben wurde. das wiederhören macht trotzdem großen spaß.

60

COLTRANE „LIVE“ AT THE VILLAGE VANGUARD
coltrane, dolphy, tyner, workman, garrison, jones, thiele, van gelder (2. & 3.11.1961)

als ich diese aufnahmen entdeckte, noch als schüler, konnte ich erstmal nicht an dolphy vorbeihören. wie kann man ein scheinbar so unbewegliches instrument, so rau, krächzend, quietschend, so elegant in diesen fluss einbetten, völlig (klischee)freie linien waghalsig so platzieren, dass sie genau in den rythmus passen? synkopiertes räuspern, sechzehntelketten aus aufstoßern und schluckauf. coltrane, der leader, war da für mich schon gesetzt, als meister, revolutionär, klassiker. auf diesem album hier verschiebt sich aber das bild, coltrane steht klar im beweglichen zentrum, auf zwei instrumenten, in den rumpfbands trio, quartett und quintett, ohne die gäste und ihre tollen klangfarben, die im village vanguard noch dazustießen: oboe, kontrafagott (!), tanpura. die auswahl aus drei stücken bildet ihn ab zwischen drone-minimalismus („spiritual“), kurzgefasstem solo über einem standard („softly, as in a morning sunrise“) und einer 16-minütigen tour de force über einem spontan erfundenen schnellen blues-thema („chasin‘ the train“). wie diese band (auch mit workman) zusammenarbeitet, begeistert mich natürlich immer wieder aufs neue, aber was da auf seite 2 passiert, ist meinem fassungsvermögen immer noch einen schritt voraus. der zug wird nicht mehr bestiegen, er ist abgefahren und man hetzt ihm hinterher. diese 16 minuten sind total konzise, eine idee ergibt die andere, wenn coltrane sich mal wiederholt, merkt er es sofort und findet was neues. ein jazzsolo, das man nicht transkribieren und nicht nachspielen kann, es sind so viele elemente drin, die nicht „töne“ sind oder „linien“, so viele schattierungen zwischen luftanhalten und schrei, und alles, anders aber ähnlich wie bei dolphy, immer auf den rythmus bezogen, auf den swing, immer wieder im kontakt mit der basis. abstrakt wird es, wenn coltrane und garrison gemeinsam kurz in der luft hängen, bevor sie wieder ins blues-schema und den walking bass umschalten, doch jeder ausflug macht das zurückkommen intensiver. der spiritual wurde eingeübt, der popsong war eine schnelle verabredung, die schnelle zugnummer ein-on-the-spot-ereignis. man vergisst vielleicht im großen narrativ der coltraneschen emanzipationsbewegung, wie vielfältig diese musik zu jedem zeitpunkt war. angeblich haben coltrane, garrison und ali in japan ja noch zwischendrin aufnahmen mit standards gemacht.

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