Antwort auf: Ich höre gerade … Jazz!

#12494395  | PERMALINK

gypsy-tail-wind
Moderator
Biomasse

Registriert seit: 25.01.2010

Beiträge: 68,343

Ich mach auch mal bei Red Callender mit – mit der CD-Compilation The Red Callender Sextette & Fourtette „The Rhythm & Blues Years“ – The Complete RCA Victor Sessions 1951-1952 (Fresh Sound, 2016). Die drei Alben, die @redbeans gerade hörte, habe ich auf zwei Fresh Sound CDs, die schon lange auf dem Hörstapel liegen – und da liegt eben auch noch die dritte bzw. erste CD mit den gesammelten RCA Victor Sessions sowie über einem Dutzend weiterer Stücke. Los geht’s mit dem obigen Calypso mit der Sängerin Mauri Lynn und einem Solo von Marshall Royal, der hier überhaupt ziemlich glänzen darf, auch als Lead-Stimme in den Arrangements (wie der Calypso nach Kalifornien kam? via New York vermutlich, wo Callender davor auch schon längst gespielt hatte: der 1916 in Virginia geborene Musiker kam mit seiner Mutter nach ihrer Scheidung nach New York und besuchte besonders häufig den Harlem Rhythm Club und den Savoy Ballroom, 1934 ging er dann on the road und landete zwei Jahre später mit Blanche Thompson & the Brownskin Models, einer Vaudeville-Truppe, in Los Angeles im Lincoln Theatre: „I was the hip New Yorker among all the squares. No one in Los Angeles had heard either Roy Eldridge or Art Tatum. I took a great pleasure in prophesying, ‚Hey–you will hear about these guys, I know you haven’t yet but you will.'“ (Das Zitat

Die anderen Bläser der ersten Session sind Maxwell Davis (ts) und Floyd Turnham (bari), Chico Hamilton in an den Drums dabei, Eddie Beal am Klavier, und Lynn singt noch eine Ballade, dann gibt’s zwei Instrumentals („Perdido“ mit Art Calderone an Timbales und „Chico’s Boogie“) – die geplante B-Seite nehme ich an. Und „geplant“ ist interessant hier, weil sechs der 40 Stücke von Victor gar nie herausgebracht wurden.

Bei der zweiten Session (wieder vier Stücke, alle veröffentlicht) übernehmen Jewel Grant (as), Clyde Dunn (bari) und Lee Young (d), statt Calderone taucht auf einem Stück Ignacio Lopez (bgo) auf. Session Nummer drei (nur zwei Stücke, veröffentlicht) ist dann erstmals mit Trompete (John Anderson), dazu ein weiterer toller Tenorsaxer an der Schwelle von R&B zu Jazz (Maurice Simon), einmal mehr Turnham, Beal und Young, aber auch Chuck Norris (g), die Band ist inzwischen also eigentlich ein Septette. Bei der vierten Session (zwei Stücke, eins veröffentlicht) übernimmt Minters Galloway von Simon, sonst sind’s nochmal dieselben Leute (zwei aufeinanderfolgende Tage, 17. und 18. Juli 1952 – vielleicht auch einfach über Mitternacht hinaus, dann wären wir wieder bei der üblichen 4-Stücke-Session). Dann gibt es eine Session vom Fourtette, auch vom 18. Juli (4 Stücke, nur eins veröffentlicht, zusammen mit dem letzten veröffentlichten Sextet/Septet-Stück), da fehlen einfach die Bläser, Norris ist neben Beal und Young aber immer noch dabei.

Nach den 16 RCA-Stücken gibt es noch ganze 14 für ein Label namens Recorded in Hollywood Records (das gehörte zu Dolphins of Hollywood, der von John Dolphin gegründeten Kette von Plattenläden, und zwei Singles auf dem Dolphins of Hollywood Label sind in der Uptown-CD von Mingus zu hören, wo bestimmt auch was zu dem Label steht). Hier ist das Line-Up nicht immer klar: Maxwell Davis (ts), poss. Bumps Myers (as, ts), Que Martyn oder Floyd Turnham (bari), poss. Eddie Beal (p), poss. Chuck Norris (g), unbekannte (d) und auf vier Stücken Linda Hayes (voc). Hier werden nur Jahre angegeben, die aber einigermassen fragwürdig scheinen, nämlich 1951 bis 1954, wobei die Single 237 unten bei Discogs mit dem Jahr 1952 gelistet ist, die Fresh Sound CD aber 1953 als Aufnahmejahr angibt (die A-Seite stammt hier von Little Cesar, Que Martyn hat komponiert, ob Callender mitspielt, weiss ich nicht). Der Sound ändert sich hier, wird dank der (vermuteten) beiden Tenorsaxer schwergewichtiger und die zwei agieren auch mal nahezu symbiotisch quasi im Duett.

Das ist von der musikalischen Richtung her Jazz mit deutlichen Anleihen an R&B oder auch andersrum, die Ensembles klingen mal wie eine verlangsamte Version von Louis Jordan Band oder sowas, die drei Saxophone sorgen für einen reichen, sonoren Sound, das hat eine grosse Geschlossenheit, gerade weil fast nie ein Blechinstrument einen Kontrast setzt. Es gibt auch mal Gruppen-Vocals („Lonesome Rebecca / She’s the loneliest girl in town“) und da und dort auch Beats, die man getrost als Proto-Rock’n’Roll hören kann – in langsamerem Tempo halt. Wenn Beal dann seine Boogie-Rolls spielt (die bei Little Richard ja z.B. prominent blieben) und Norris die Gitarre aufheulen lässt, passt das schon: aus dem Blues und R & B wird was neues gemacht … das dann bloss noch die Hautfarbe (und damit das ganze Personal) wechseln musste, um das Musikbusiness auf neue höhen zu hieven. Hier steigt auch der Pop-Faktor deutlich an, fast erstaunlich, dass auf den Labels nicht auch „Foxtrot“ oder sowas steht – und Fake-Applaus gibt’s auuch mal noch. Auch das Medium war ein anderes: noch Schellack-Platten, die mit 78 rpm abgespielt wurden, im Gegensatz zu RCA, wo bereits Vinylplatten mit 45 rpm produziert wurden. In der wie immer anonymen Überspielung hier (Pujol macht ja kaum alles selbst?) klingen die Schellack-Platten etwas voller und klarer, aber es fehlten auch etwas die Höhen (vielleicht, weil zuviele Nebengeräusche herausgefiltert wurden und damit halt auch u.a. der grosse Teil der Becken-Klänge).

Callender selbst ist natürlich ein souveräner Musiker, was man gerne mal vergisst, weil er selten auffällig agiert und sich niemals in den Vordergrund drängt. Sein Ton ist immens, sein „pitch“ perfekt, er hat Ideen und einen soliden, stets vorwärtsstrebenden Beat. Ein Musiker, der wohl die allermeisten in New York aktiven Bassisten der Zeit locker übertrumpft hätte, wenn Bass-Battles ein Ding gewesen wären (kommt mir nur grad Al McKibbon als mögliche Ausnahme in den Sinn … Percy Heath dann auch, aber vielleicht noch nicht 1951/52 würde ich mal vermuten). Davis und Simon brechen mal R&B-artig ruppig aus, die Altsaxer bewegen sich irgendwo im feuchtwarmen Territorium zwischen Johnny Hodges und den Kitschern (Earle Warren, Dan Grissom [als dessen Begleiter Callenders Trio ein paar Jahre früher mal bei einer Plattensession wirkte] – eigentlich egal ob wenn er sang oder Altsax spielte), sind aber durchaus attraktiv (Grand kenne ich kaum, Royal war schon 1951 sehr gut und der Kitschquotient liegt bei ihm einiges niedriger).

Das Cover der Fresh Sound CD wurde von der Camden EP von 1957 geliehen, auf der je zwei Stücke von den ersten zwei Sessions (die mit Maxwell Davis) zu finden sind. Das Booklet ist ausgesprochen reichhaltig: 24 Seiten Text und viele (meist kleine) Bilder (nicht alle mit direktem Bezug zu den Aufnahmen hier, so gibt es z.B. ein Bandfoto der Buck Clayton Big Band im Cotton Club 1936, zu der Callender gehörte, oder Callender mit anderen beim Anhören einer gerade gemachten Aufnahme mit Charlie Parker für Dial, oder auch ein Foto einer Jam-Session mit Frank Morgan, Dexter Gordon, Gerald Wiggins und drei auf der CD zu hörenden Musikern: Anderson, Callender und Hamilton), Label der Singles (und anderer Aufnahmen, z.B. die Philo-Session von Lester Young mit Nat Cole und Callender). Pujol erzählt halt die Geschichte Callenders von den Anfängen bis in die Fünfziger. Auf jeden Fall empfehle ich die CD wirklich gerne – auch wenn die 30 Tracks vielleicht am Stück etwas zuviel aufs Mal sind.

Eine Camden-LP gab es 1958 übrigens auch noch – da sind aber wieder die gleichen vier Stücke von Callender wie auf der EP drauf, der Rest stammt von anderen Musikern (Arthur „Big Boy“ Crudup und Little Richard):

--

"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #164: Neuheiten aus dem Archiv, 10.6., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba