Antwort auf: David Murray

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gypsy-tail-wind
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murray allen & carrington power trio, perfection (2015)

das album hatte ich gehört, als ich für den nachruf auf geri allen ihre letzten aufnahmen recherchierte – das war, 2 jahre vor ihrem tod, tatsächlich die letzte veröffentlichung. eigenartige besetzung, ohne bass, ich dachte damals: wahrscheinlich ist esperanza spalding kurz vorher krank geworden, aber ich lerne jetzt, dass dieses trio von murray genauso konzipiert war, dass sie vorher live aufgetreten sind und bewusst die herausforderung gesucht haben, ohne bass zu spielen, um aus ihren individuellen komfortzonen herauszukommen. es hat ein paar jahrzehnte gedauert, bis murray mal mit „natural women“ im jazz (von sängerinnen abgesehen) zusammengearbeitet hat, und eigentlich ist es ganz süß, was er paul devlin auf do the m@th darüber erzählt – da gibt er sich als vertreter des guten alten herrenwitzes zu erkennen (was ich ja gerade erlebt habe) und muss gleichzeitig einräumen, dass er damit in diesem trio nicht weit gekommen ist:

I realized that the World Saxophone Quartet was on the decline. People were getting older or were moving apart. Now that’s passed and the World Sax Quartet is better to not be together. I wanted another group that was a collective, so I started this thing with Terri and Gerri. I can’t just be David Murray all the time. Sometimes I can wear my own name out. At one point I might have been overexposed, in the 80s. As I get older, I don’t think I can be overexposed.

PD: What’s it like working with the trio?

DM: It took us a year to get through the album. Everything is slow with this band, because women discuss things all the way through. Women think all the time, whereas we don’t! The details are very fine in their minds. Working with two great divas – and they’re both divas in their own way – and they demand to be treated as such, which I understand, I dig it! They’re very strong women. I’m not kissin their ass or nothing. Sometimes I annoy them because I always tell my little stupid jokes. But they’ve come to like my jokes. When I thought of this group I wanted to call it the Geri-David-and-Terri Show, like a play on the Tom-and-Jerry thing. They didn’t like that name. Then I say, on stage, I say, “this is called a ‘jazz sandwich’ – but they got laws against that kind of stuff.” I get a little chuckle. Eddie Harris could go for half an hour with jokes. I’m trying to get up to five minutes.

zumindest heißt ein song auf dem album noch „the david, geri & terri show“. und herrenwitz beiseite: holla, ist das großartig, was die da abfackeln. das viele denken hat scheinbar gut getan, denn einiges ist hier sehr reizvoll um die ecke gedacht, eigenwillig und musikalisch aufreizend – und wer damit am meisten spaß zu haben scheint, ist natürlich murray, der hier noch nicht mal seine special effects anknipst, sondern einen wilden tanz veranstaltet. kollektiv ist das material zusammengestellt, alle drei können komponieren und arrangieren, dazu gibt es einen spiritual, den geri allen von charlie haden gelernt hat, und murray bringt eine unbekannte ornette-coleman-komposition mit, die ihm bobby bradford transkribiert hat – das titelgebende „perfection“. dazu (und nur da) tauchen gäste auf: murray bringt craig harris mit, geri allen ihren sohn wallace roney jr. und charnett moffet, mit dem sie ja im letzten coleman-quartett gespielt hat. ich vermisse das vollere klangbild aber auf den anderen stücken nicht, allen & carrington spielen auf interessante weise orchestral, aber gleichzeitig sehr pointiert.

dieses do the m@th interview ist insgesamt sehr lesenswert. z.b. wird deutlich, dass werkphasen bei ihm wohl viel mit der jeweiligen ehefrau zu tun haben: die ming-epoche mit dem karriereaufbau aus der loft-avantgarde heraus, die valérie-mangot-epoche mit dem paris-wohnsitz, den sozialprojekten in der banlieu und dem panafrikanisch/diasporischen austausch (ab 1998, bis 2016/17), hier (2017) ist er wieder in new york und will es nochmal wissen, ornette coleman ist gerade gestorben (auf dieser CELEBRATING ORNETTE produktion von denardo ist er auch dabei, ich hatte noch nie gelegenheit da reinzuhören), murray sucht sich jüngere bands zusammen – und spielt plötzlich mit frauen! vielleicht ist das jetzt die francesca-phase?

zum anderen ist seine idee von gerechter bezahlung für jazzmusiker interessant – ausgehend von bob thiele:

I’m the missing link between cats getting paid and cats not getting paid. Bob would pay me $40,000 for a record date. There are young people who want to come in and play for hardly anything. That messes up the business. We used to actually get paid for doing records. We charge professional money to play concerts, whereas a lot of these kids don’t get paid as professionals. When I got back here the first thing I understood was that the pay had gone far too low. People come out of college and want to be in somebody’s band, or have a band that sounds like a college homework assignment. When I came to New York, I hired the coolest guys I could think of – I hired Eddie Blackwell, Ray Drummond, Andrew Cyrille, and John Hicks. When you have a bad night as a young man, you don’t have the experience to make up for it. But when you look around and have 200 years of experience on the bandstand, that helps you. When you have other guys from your classroom on the bandstand, that doesn’t help you. When I came here in 1975, for an independent study program through Pomona College, my job was to listen and to write articles. My professors were Stanley Crouch, Bobby Bradford, and Dr. William Russell. I did that for a semester. Dewey Redman told me to put the pencil down and pick up my saxophone. I got sucked into the New York jazz scene. I was playing in the lofts, and in some jazz sessions. But I was mostly listening. I interviewed Cecil Taylor. I interviewed McCoy Tyner, Ornette Coleman, John Cage. Everybody needs to listen.

Da brauch ich gar nicht viel mehr dazu zu sagen, nach dieser ausführlichen Vorstellung des Power Trios von Murray mit Geri Allen und Terri Lyne Carrington. Nur ein paar eigene Gedanken dazu: Mit dem Spiel von Carrington werde ich oft nicht wirklich warm – aber hier fügt sich das wirklich gut, auch mir gefällt das Klangbild, in dem letztlich alle drei fast schon orchestral wirken: Murray hat ja eh diesen haushohen Ton, Allen verfügt über eine grosse Klangpalette (und ihr Klavier ist auch richtig schön aufgenommen) und Carrington ist hier mit ihren oft rockigen Gesten genau die richtige Partnerin: es gibt ohne den Bass eben viel Raum und den kann sie sich nehmen, ihre ständigen Fills und binären Klöppelrhythmen legen den Boden – auch wenn Allen (in „Geri-Rigged“) plötzlich aussetzt und ein intensives ts/d-Duett entsteht, in dem Murray auch mal ein paar Coltrane-Momente hat. „Barbara Allen“ finde ich eine wahnsinnig schöne Performance – eins meiner Highlights hier. Ein anderes ist der Moment nach Murrays Solo-Flug, kurz vor Ende „The David, Geri & Terri Show“, wenn Carrington einen Moment lang trommelt, als wäre sie Teil einer Marching Band aus New Orleans. Es läuft hier sehr viel – und doch wirkt das nie überladen. Den Bass wegzulassen war vermutlich also eine richtig gute Idee. in „The Nurturer“ gibt es am Anfang auch noch wortlosen Gesang von einer Frauenstimme. Und dass das ein Programm voller Hommagen (Ornette Coleman, Marcus Belgrave – „The Nurturer“ mit Schattengesang von Allen hinter Murrays Sax im Thema, nehme ich an? –, Mary Lou Williams, Charlie Haden/Allens Mutter) ist, hört man der Musik nicht an. So lebendig wie das alles ist kommt keine Melancholie auf – eher wird hier aktiv und sehr bewusst Tradition gepflegt und fortgeschrieben. Und je länger ich höre, desto besser gefällt mir Carrington, besonders ihr Spiel auf der Snare, auch mal mit Besen. Letzteres etwa in „For Fr. Peter O’Brien“, Allens Hommage an Williams, wo Murray zum zweiten Mal die Bassklarinette hervorholt und bald halb hinter dem Klavier eine Art Begleitung zu spielen scheint. Dieses Hin und Her, das Zusammenspiel auf Augenhöhe, ist es, was das Album für meine Ohren so gut macht.

Das Album hatte ich übrigens irgendwann nach Geri Allens Tod gekauft (ist das schon so lange her, krass!) – aber nur oberflächlich gehört und nicht auf Anhieb Zugang gefunden. Ganz anders heute!

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