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1. Paula Hartmann – Kleine Feuer
Das dürfte das 18. Jahresalbum sein, dass ich in diesem Forum benenne. Und nicht selten haben die Dinger dann in der Gesamtwertung nur eine einzige Wertung. Letztes Jahr war das mit Steiner & Madlaina auch so.
Diesmal nicht, wie wir inzwischen wissen, hat es „Kleine Feuer“ in die „Top 50“ der Forenwertung geschafft.
Zunächst mal ist es mehr als fraglich, ob ich in die Platte jemals hinein gehört hätte, wenn ich den Auftritt bei Böhmermann am Erscheinungstag nicht gesehen hätte. Denn das ist ja ein Genre, mit dem ich mich eigentlich überhaupt nicht beschäftige. Obwohl, welchem Genre ordnet man diese Musik überhaupt zu? PH rechnet sich nicht zum Hip Hop, holt sich aber natürlich viele ihre Einflüsse von dort, und wurde in dieser „Familie“ auch wohlwollend aufgenommen. Zahlreiche Gäste auf dem Album tun ihr übriges, wie z.b der nicht ganz unumstrittene T-Low, der in dem Song „Sag was“ den schillernsten Gastbeitrag liefert. In dem verstörenden Video übernimmt übrigens Adrian Grünewald (Sløborn) dessen Rolle.
Böhmermann hat mich also drauf gebracht, die großartige 2 Minuten Nummer „Zwischen 2 und 5“ hat mich angetriggert, und beim Hören des ganzen Albums setzte schnell so eine Art Magnetismus ein.
Die Berlinerin (genau genommen Westend-Berlinerin) verknüpft nämlich hier eine Art Berlin-Sehnsucht mit einer Milieustudie der Gen Z. Im Grunde spielt das Album in einer Nacht, hat deshalb bemerkenswerte Parallelen zu dem Roman „Arbeit“ von Thorsten Nagelschmidt, und wäre der ideale Soundtrack, wenn man versuchen würde das Buch zu verfilmen.
Paula Hartmann selbst erfüllt ganz sicher keine Klischees der Gen Z. Dass sie seit dem 7. Lebensjahr geschauspielert hat (z.B. mit Hauptrollen in der Serie Pfefferkörner, im Kinoproduktionen, und in einem Tukur-Tatort), ein Jurastudium absolvierte, und die Karriere als Musikerin inzwischen alles andere als ein Hobby ist, hat sie Disziplin und harte Arbeit ganz sicher gelernt.
Die in sehr bildhafter Sprache geschilderten Geschichten, bezeichnet die Künstlerin selbst als moderne Märchen, die eben vorzugsweise auf der Beobachtung von gleichaltrigen beruhen. Und dabei ist das Album sehr düster geraten, rastlos, unter Einnahme zahlreicher Substanzen, und irgendwie hoffnungslos.
Entstanden ist die Platte als Co-Produktion von Benjamin Bistram und PH, die sich ein sattes halbes Jahr in Bistrams Studio quasi eingeschlossen haben. Four Music dürfte also durchaus gewisse Erwartungen gehabt haben, denn Low Budget dürfte Hartmanns zweites Werk nicht gewesen sein. Das muss nicht zwingend zu einer besseren Platte führen, hier hat es aber ohne Frage dazu beigetragen, etwas zu schaffen, das wie aus einem Guss klingt. Quasi ein Konzeptalbum im ureigensten Sinne des Begriffes.
Zu den 13 Songs gesellen sich auf der Schallplatte noch zwei Hidden Tracks, die sich perfekt einfügen, und nachträglich noch zum Streamen veröffentlicht wurden. Als CD gibt es das Album gar nicht, womit man einen Einstieg auf Platz 1 der Album Charts wohl verbockt hat. Das Album stieg nämlich auf Platz 2 ein, und das auch nur weil mit Judas Priest ein Megaseller am gleichen Tag erschien.
Die Liveumsetzung auf der ausverkauften Tour mutete übrigens etwas seltsam an. Mit Konzerten wo die Musik komplett vom Band kommt, hatte ich bisher gar keine Berührung (Einzige Ausnahme „Nie verliebt“ vom ersten Album, welches Paula als Klavierballade mit eigener Begleitung zum besten gibt). Bühnenbild und visuelle Show sind sehr kreativ, aber das laute und manchmal zu begeisterte Publikum wirkt bei der vielen Melancholie manchmal unfreiwillig komisch.
Ein umwerfender Schachzug ist übrigens „Snoopy“, der finale Höhepunkt der Platte, der die ganzen Dramen, die sich bis dahin abgespielt haben, auf rührende Weise auflöst. Auch „Snoopy“ ist ein trauriger und in Teilen niederschmetternder Song, der aber in seinem wahnsinnig schönen Refrain auch eine Art Heimkommen transportiert. Bei aller Schlichtheit vieler Songs, die gelegentlich sogar minimalistisch wirken (der Opener „Gespenst“ z.b) haben eine bemerkenswerte Tiefe, um nicht zu sagen Sogwirkung.
Ob es übrigens ein drittes Paula Hartmann-Album geben wird, ist trotz dem großen Erfolg ungewiss. Dem Musikexpress sagte die Künstlerin kurz nach der VÖ, sie sei sich überhaupt nicht sicher, ob die Welt ein drittes Paula Hartmann-Album braucht, und ob sie dann überhaupt noch etwas mitzuteilen hätte. Und das muss man ernst nehmen, denn wie schon bemerkt, wechselt die Frau öfter mal von der einen Karriere zur anderen. Und die Messlatte dieser Platte ist sehr hoch. Nach menschlichem Ermessen bekommt man so etwas nicht noch einmal hin.
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