Antwort auf: David Murray

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gypsy-tail-wind
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vorgarten

seasons (1998)

das hidden treasure in der murray-diskografie, bei dem man auf dem papier denkt: hier passt doch nichts zusammen. murray mit richard hanna, richard davis und victor lewis (ok, der passt), ein jahreszeitenprogramm aus der tin pan alley, das merkwürdige pow-wow-label, lauter eigenartige arrangements („autumn in new york“ als schnelle samba), ein „less-is-more“-zugang des leaders (steht so in den liner notes, die insgesamt ziemlich gaga sind), „let it snow“ als closer – wie kann das so gut funktionieren? hier sind tatsächlich feine ohren nötig, die die doppeldeutigkeiten und untiefen des inside-playing wertschätzen, die man hier serviert bekommt. und tatsächlich auch fehler und schiefgang: hanna kann z.b. keine samba, davis witzigerweise aber schon, murray strauchelt bei den changes ordentlich, was ihn nicht daran hindert, genau dort seine herausforderung zu suchen und nicht darüber hinweg zu spielen. am ende ist das alles auf kreative weise rutschig, gleichzeitig total ernsthaft, und ruft nebenher aus den vorlagen heraus allerhand aus der jazzgeschichte auf, unterschiedliche rhythmen, harmonien, zugänge, verschiedene formen des glamours, entertainments, der showpraktiken. am ende wundert man sich wieder mal, was man aus guten songs alles machen kann.

in der euphorie der erstbegegnung schrieb ich hier damals sowas:

musste nochmal kurz auf den broadway. da sitzt nämlich das büro von pow wow records, für das murray 1998 dieses merkwürdige album aus jahreszeitengebundenen standards aufgenommen hat. also: frühling mit loesser (so kam ich drauf) und rodgers/hart, sommer mit legrand/bergman und herbert/dubin, herbst mit weil/anderson, duke und dubin/warren, winter mit thornhill/thornhill und cahn/styne. dafür hat der außerordentlich gechillte murray sich ein unterstützendes trio aus roland hanna (dessen „seasons“, für sarah vaughan geschrieben, hier als einführung dient), richard davis und dem unendlich lässigen victor lewis zusammengestellt. und man merkt, dass diese band zeit zum üben und zusammenfinden und arrangieren hatte. die versionen überraschen, obwohl sie sehr unaufgeregt daher kommen. der fast-weihnachts-song „spring will be a little late this year“ entsteigt einer gewitterwolke, „autumn in new york“ wurde offenbar in einem barrio aufgenommen, der „snowfall“ tritt als elegante cocktail-party auf. die band ist spitze, murray klang selten besser (mike marciano hat aufgenommen), aber es ist roland hanna, der hier wirklich überzeugt: er wienert theaterbühnen, hebt samtvorhänge, tanzt die showtreppe rauf und wieder runter, bevor der suchscheinwerfer ihn findet. ganz tolles album, habe ich damals komplett übersehen, als ich großer murray-fan war. let it snow, let it snow, let it snow!

da sind ein paar fehler drin, u.a. war ich damals ja gar kein großer murray-fan mehr. aber ansonsten hab ich das heute wieder genauso gehört. roland hanna wird nicht mein lieblingspianist, dazu finde ich ihn rhythmisch zu steif, aber wenn es um wirklich tiefe auseinandersetzung mit dem great american songbook geht, hat er einiges zu sagen. hier ist er absolut einzigartig.

Da bin ich jetzt – und docke gerne wieder an, weil ich das Album gerade zum allerersten Mal und auch nur in Behelfsversion höre … danke dafür @vorgarten, das scheint nämlich die nächste grosse Entdeckung zu sein, mitten in der Phase, in der ich ja auch ein wenig mit Murray zu hadern anfange. Aber wie Hanna hier schon zum Einstieg den Teppich ausrollt, was da alles läuft zwischen Richard Davis und Victor Lewis – das hat mich sofort! Hanna mag ich eine Spur lieber, aber es kommt irgendwie total auf den Kontext an. In der Jones/Lewis Big Band (mit Davis am Bass) wirkt sein Spiel oft ziemlich überbordend und fast unbotmässig – das ist dann wohl auch die Qualität, die Mingus an ihm gemocht haben dürfte (er hat ja leider nur ganz wenig mit Mingus aufgenommen, aber gehörte um 1959/60 herum zum Pool der Leute, die Mingus bei Gigs anrief). Solo oder im Duo mit George Mraz mag ich ihn auch gerne, aber im Klaviertrio finde ich ihn oft etwas unsubtil wuchtig. Dabei höre ich bei ihm da, wo ich ihn mag, eine Art beharrliche Flamboyanz – was ein Widerspruch ist, klar, weil Beharrlichkeit viel zu bieder ist, um flamboyant zu werden … ich höre da also durchaus irgendwie harte Arbeit, Schweiss – aber eben auch Höhenflüge und eine Offenheit für Unvorhergesehenes.

Meine Highlights nach dem ersten Hören: „Spring Will Be a Little Late This Year“ mit einer wunderschön singenden Bassklarinette, wie ich sie von Murray noch nicht kannte (und wie sie – für einmal – von Dolphy kaum weiter entfernt sein könnte) und wie sie hier aus einer Art Urbrummeln emporsteigt. Da gibt es auch diese kleinen Arranger’s Touches, die echt gelungen sind. Dann ist da das kollektive Abmühen in „Summer Knows“, das wirklich interessante Resultate zeitigt (und sehr viel besser gelingt als „Autum in New York“, finde ich). Murray klingt auf dem ganzen Album super, scheint mir etwas weniger in den Vordergrund gemischt als bei DIW/Jim Anderson, die Aufnahme klingt überhaupt wärmer, runder, voller – und tatsächlich wahnsinnig schön (lustig, beim Enja-Marathon fand ich die Marciano-Brüder ja nicht immer top – aber schlecht jetzt auch nicht … da gab’s halt direkte Vergleiche mit anderen Studios). Was die mit „September Song“ alles anstellen, ist auch toll – weniger das gestrichene Bass-Intro/Outro (da kam mir direkt Howard Mandel in den Sinn, der zu „Love Outside of Dreams“ schrieb, dass Hopkins den Bogen daheim gelassen hätte – hätte bei Davis an dem Tag auch nicht geschadet) besonders der Übergang vom Tenorsax zum Klavier. Das Klavier ist dann im schnörkellosen „September in the Rain“ in Soul-Jazz-Manier unterwegs – und auch das passt hier perfekt, vor allem weil sich Murray und Lewis an Lässigkeit zu übertrumpfen versuchen. „Snowfall“ ist dann auch wieder super, eine Rumba, von Davis‘ Bass getragen mit Murray an der Bassklarinette (lief hier neulich schon vom Mutter/Sohn-Gespann Stella und Sean und Levit – auch schön). Der Closer ist dann allerdings eine Lüge, denn ich wurde vorhin auf dem Fahrrad nicht etwa eingeschneit sondern bis auf die Knochen durchnässt … Murray hat hier einen seiner stärksten Momente auf dem Album und Hanna ist danach auch nochmal stark. Was für ein tolles Album – da muss auf jeden Fall noch eine CD her!

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"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #163: Neuentdeckungen aus dem Katalog von CTI Records (Teil 2), 13.5., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba