Antwort auf: blindfoldtest zum jahresende

#12418627  | PERMALINK

gypsy-tail-wind
Moderator
Biomasse

Registriert seit: 25.01.2010

Beiträge: 68,343

Wie die alte Fastnacht … aber wo der Faden stündlich wächst, muss das jetzt sein, müde und – wie beim Teil 1 – getippt direkt beim ersten Hören (und bisher einzigen, auch Teil 1 hab ich nicht nochmal ganz wiederholen können bisher).

2-1 | Da braucht es die Trompete, damit ich Zugang finde, das Intro ist nervöser kühler Bebop (oder boppiger Cool) und klingt dabei doch mehr nach Thornhill als nach Miles Davis‘ Tuba-Band. Aber die singende Trompete – ein Kornett vielleicht? – ist super. Und dann nach dem Gitarrensolo (hübsch, packt mich aber nicht wirklich) und den Überleitungen (inkl. ein paar steife Aktionen des Drummers) ein paar hübsche Takte eines – sehr leichten – Tenorsaxophons. Je länger das läuft, desto besser gefällt es mir. Die Posaune führt dazu, dass ich an Mingus 1953/54 denke, aber dafür ist die Band zu gross, die Sax-Section zu weich arrangiert. Ist das hintenraus ein Altsax oder nochmal derselbe Tenorsaxer? Letzterer, denke ich … also abgesehen vom Gitarrensolo einfach die zwei Lead-Bläser? So direkt keinen Plan, wer die Leute sind, aber das ist bestimmt längst identifiziert.

2-2 | Ich höre jetzt einfach mal überall Kornette statt Trompeten … das Sax ist dann sofort als Tenor erkennbar, etwas weniger beweglich, spröder im Ton, eher die Cohn/Sims-Ecke, während das davor eher nach Warne Marsh klang … aber das kann der hier irgendwie auch, wenn er hoch in seine Phrasen einsteigt … ein Chamäleon mit einem Stil, aus dem man drei Saxophonisten formen könnte. Die Trompete gradlinig, weniger faszinierend als im ersten Stück, das wirkt im Vergleich dazu überhaupt – nicht nur die Trompmete – eher etwas professionell dahingespielt als tief empfunden.

2-3 | Eine brüchige Posaune irgendwo aus der Bert/Dennis/Knepper-Ecke zum Einstieg, schön – und dann noch so ein biegsames Sax (dieses Mal aber wirklich ein Alt, ja? Dass all diese Lester Young-Schüler meinten, sie dürften keine tiefen Töne nutzen – und im Gegensatz zum Vorbild keine Honks spielen mochten – führt da ja schon manchmal zu Verwirrung). Das Schema ist ja irgendwie immer wieder ähnlich, auch wenn der erste Track mit der grössere Band, der Gitarre, den auskomponierten Passagen usw. schon anders funktioniert. Dass das Ende nochmal kurz dialogisch ist – schön.

2-4 | Okay, die Gitarre kenne ich … K.B.? Sind das immer noch alles Wilder-Stücke? Das hier ist der erste, bei dem ich ziemlich sicher bin, dass das Album im Regal steht … und bekannt vorkommen tut er mir auch. Ach ja, klar – die Orgel, die Gitarre: voilà – dann lautet die Antwort auf die Frage nach Wilder wohl auch ja.

2-5 | Schön, wie das Piano die Balance zwischen Lounge und Bar hält … eine Leichtigkeit in den Klischee-Figuren findet, sie gleichzeitig spielt und sich über sie erhebt. Auf halbem Weg wird das Mäntelchen der Zaghaftigkeit abgelegt – aber auch nur so halb: ein paar satte Akkorde, eine angedeutete Stride-Figur … und schon ist das zurück in der detachierten Eleganz, die über die glatt polierte Tanzfläche schwebt … ein Stottern kurz vor dem Schluss, ein Rallentando. Das ganze wirkt wie ein Tanz – ein Eintänzer, der einsam durch den Raum schwebt?

2-6 | Da sind dann alle zehn Finger auf den Tasten – Leichtigkeit ist schon auch da, auch Eleganz, aber sie wird vollkommen anders erzeugt. Das Stück kommt mir bekannt vor. Das ist mir aber doch etwas zu dicht, zu blumig – erdrückt fast die Zartheit, die durchaus auch darin angelegt ist, die immer wieder mal aufblitzt, in den Voicings oder wenn die Linke in der hohen Lage eine Linie spielt. Mittendrin wird es fast so dicht, als wären da vier Hände tätig … das finde ich aber doch so interessant, dass ich neugierig bin, mehr hören möchte.

2-7 | Bossa, zwei Drummer, ein Blech-Arrangement à la A&M/CTI? Die Melodie an der Gitarre wird immer hypnotisierender … hat auf mich eine Wirkung wie … vielleicht „India Song“? So stelle ich es mir, wenn Jobim Wilder spielt und Ogerman ein Arrangement mit Bob Brookmeyer im Satz schreibt. Toll! Repeat.

2-8 | Uff, ein ziemlich Bruch mit dem in your face Altsax – aber super, muss nur mal rasch durchatmen, den Sender neu ausrichten. Die Rhythmusgruppe ist etwas hektisch (die Gitarre interessanter als das Klavier – beides zusammen zu viel, wie so oft … aber die Gitarre auch hinterm Klaviersolo interessant), die Drums spielen mir zu sehr nach vorn, das fliegt für mich fast auseinander … ach, eine Trompete ist da auch noch? Wirkt underrehearsed oder fast wie eine Live-Session einer nicht so gut austarierten Band? Aber das Sax finde ich toll – schöner Ton, interessante Linien … und der Rest ist echt nicht halb so übel, wie ich es grad klingen lasse. Die Drums stören mich aber, der Herr hier hat eine Time, die mit mir nicht recht kompatibel ist. Hier sind wir in den Siebzigern, oder? Jedenfalls auch ein Zeitsprung nach den understated Sixties in den Tracks davor. Das Sax wirkt über der Band ein wenig entrückt, wie in einer eigenen Welt – auch am Ende bei der Themenrekapitulation. Das Stück kommt mir vage bekannt vor, aber mehr auch nicht.

2-9 | Das ist sehr schön … der Pianist singt im Falsett mit und das Klavier erinnert mich ein wenig an Jarrett, ohne dass ich das genauer festmachen könnte, irgendwas zwischen dem Klang (reich an Farben) und der Phrasierung. Das ist ein wahnsinnig süffiges Stück, Changes wie ein Pop-Song oder eine Motown-Ballade oder sowas. Und so wirkt das, als sei’s nach einer Minute schon vorbei. Repeat.

2-10 | Zum Ausklang noch was Bekanntes – Track 4 von hier, ja? Kann ich als Nicht-Streamer nirgendwo sampeln, die CD ist nicht grad greifbar. — Interessant, wie anders die letzten drei Tracks generell wirken – nicht weniger elegant oder sophisticated, aber irgendwie direkter, flacher, mehr gerade aus, dünkt mich? Sie sind jedenfalls merklich aus einer anderen Zeit als die sieben davor – was auch mit der Aufnahmetechnik zu tun haben mag, den anderen Erwartungen der Zeit, was Klangqualität angeht? Jedenfalls hört sich das für meine Ohren wie ein Bruch an (oder auch mehr denn einer), während davor der Flow aus den Fünfzigern in die Sechziger recht kompakt und in sich stimmig wirkt, bei allen Unterschieden zwischen den Stücken.

Vielen herzlichen Dank für diese tolle Auswahl! Durch alles durchlesen krieg ich heute nicht mehr hin – und daher warte ich glaub ich besser gleich ganz bis morgen, schicke das hier rasch ab und bin gleich wieder fort.

--

"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #164: Neuheiten aus dem Archiv, 10.6., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba