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Ich versuche nach und nach von meiner Ben Webster-Abhängigkeit loszukommen. Vielleicht zur Abwechslung mal etwas Musik hören, die während meiner Lebenszeit aufgenommen wurde? Vielleicht in diesem Jahrtausend? In diesem Jahrzehnt oder sogar in diesem Jahr? Aber wir wollen nicht gleich übertreiben!
Jeff Parker – The Relatives (2005)
Ich hatte dieses Album ursprünglich bei Erscheinen gekauft. Jeff Parker kannte ich schon als Mitglied von Tortoise, Isotope 217 und dem Chicago Underground Quartet. Das machte mich natürlich neugierig. Ich bin damals aber mit The Relatives nicht so richtig warm geworden und habe das Album irgendwann wieder abgestoßen.
Angeregt durch das Bohei hier im Forum um sein neuestes Album, habe ich aber mal wieder in The Relatives reingestreamt, mit der Folge, dass ich das Album wieder angeschafft habe. The Relatives revisited, sozusagen. Klingt nach fast 2 Jahrzehnten erstaunlich vertraut. Gleichzeitig fällt mir aber jetzt auf, wie vielfältig diese Platte ist: erst das atmosphärische Istanbul, dann das fast rockige Mannierisms, das ohrwurmige Marvin Gaye-Cover When Did You Stop Loving Me …, Beanstalk (mit Flöte!) ist lieblich, das Titelstück wird von percussion dominiert, aber alles zusammengehalten durch den charakteristischen Klang dieser Band. Ich weiß nicht, was es ist, aber es scheint eine spezielle Harmonik in dieser Musik zu liegen. Eigentlich alles sehr zugänglich, mit einem Hang zu Fusion, Soul Jazz und manchmal fast Rock.
Aber neben dieser Vielfalt gibt es auch immer wieder Brüche in der Musik selbst und (meine?) Erwartungen werden unterlaufen. Bei Mannierisms hört mein geistiges Ohr ein zupackendes Gitarrenriff, aber Jeff Parker greift eben gerade nicht voll in die Saiten. Für die Aggressivität ist stattdessen Sam Barshesnet am E-Piano zutändig, das polyrhythmische Titelstück ist etwas sperrig, der nahtlose Übergang ins nächste Stück Toy Boat wirkt etwas unmotiviert und der Ohrwurm der Platte kommt sogar ganz von außen, von Marvin Gaye, und wirkt auch etwas aus der Reihe gefallen. Das letzte Stück scheint am Ende in einer Zeitschleife festzuhängen, spannt den Hörer auf die Folter und löst sich erst zögernd auf.
Ich glaube, das hat mich früher etwas genervt. Hört man da den Berklee-Absolventen Jeff Parker heraus, der sich immer wieder einen interessanten Akkord, einen interessanten Rhythmus, eine interessante Wendung ausdenkt, statt einfach mal geradeaus zu spielen und das am nächsten liegende zu tun? Sitzt da der Jazzhörer Pfeife rauchend in seinem Ohrensessel und denkt „Interessant!“ ? Manchmal möchte ich Jeff Parker fast zurufen: „Jeff, trau dich! Spiel doch einfach mal das Schweinerock-Riff und lass es krachen! Du willst es doch auch!“
Aber vielleicht ist es gerade das Spiel mit dem scheinbar Vertrautem einerseits und dem Unerwarteten andererseits, was hier auch den Reiz der Musik ausmacht. Paradoxerweise habe ich mich inzwischen an das Unerwartete nicht nur gewöhnt, ich erwarte es sogar. Und es gefällt mir.
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“There are legends of people born with the gift of making music so true it can pierce the veil between life and death. Conjuring spirits from the past and the future. This gift can bring healing—but it can also attract demons.” (From the movie Sinners by Ryan Coogler)