Antwort auf: Ben Webster – The Brute and the Beautiful

#12406003  | PERMALINK

friedrich

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Was ist es eigentlich, das mich an dem Saxofonisten Don Byas so anrührt? Wobei: eigentlich geht es nicht unbedingt speziell um Don Byas. Es geht um besondere Eigenschaften in seinem Spiel, die man in ähnlicher Form auch bei anderen Musikern finden kann. Die Namen Ben Webster und Coleman Hawkins ließ ich hier schon fallen.

Also mal wieder die zwei ganzen (Soulville und Meets Oscar Peterson) und zwei halben (Coleman Hawkins Meets … und Gerry Mulligan Meets …) Ben Webster-Alben, die ich habe, hervorgekramt. Zu Soulville hatte ich weiter oben schon mal was geschrieben, was ich auch so stehen lassen möchte. Aber es gibt noch mehr und anderes dazu zu sagen.

Also, es fängt damit an, dass Ben Webster die ersten Töne irgendwo in den Raum bläst, aber nicht ins Mikrofon. Aus dem Hintergrund hallen sie herüber bis Webster seinen Fehler bemerkt und sich zum Mikrofon wendet. Das wirkt schon sehr lässig, eigentlich eher nachlässig. Ben Webster und seine Band nahmen es da offenbar nicht so genau. Vielleicht spielen sie sich da erst warm aber Produzent Norman Granz ließ einfach schon mal das Band laufen? Ein anderer Produzent hätte die Aufnahme da vielleicht abgebrochen und sie wäre Jahrzehnte später auf einer „The Complete Soulville-Sessions“ als „Alternate take 1 / false start“ gelandet. Auf jeden Fall ist es gut, dass das Band weiterläuft, denn das was danach passiert ist sowieso nicht wiederholbar. Ben Webster ist entspannt und lässt sich etwas gehen. Der Mann ist schon zu lange im Geschäft, um sich selbst unter Druck zu setzen. Ben Webster breitet sich mit seinem Saxophon in der Musik aus, so wie er sich wohlfühlt.

Mal flüstert er, mal haucht er bloß, es ist ein Zittern in seiner Stimme, er presst und dehnt die Töne, lässt sie an- und abschwellen, schleift sie manchmal auch nur an der Oberfläche an, eine Pause, dann ein growl, ein scharfer Akzent. Da spürt man Ben Websters Atem, den Druck aus der Lunge, wie das Blatt im Mundstück vibriert und die Luft durch das Saxophon strömt. Eine Dramaturgie in jedem einzelnen Ton. Wie eine Berührung, zuerst nur eine zaghafte Annäherung, ein zärtliches Streicheln, ein Kribbeln auf der Haut, dann ein etwas kräftigeres Drücken und auch mal ein beherztes Zupacken. Manchmal spürt man sogar die Fingernägel. Loslassen. Zärtlichkeit und Biss, manchmal zugleich.

Das klingt organisch, wirkt intim und sinnlich. Man kann das auch melodramatisch und sogar kitschig finden. Vielleicht ist das eine Ästhetik, die mit dem Bebop, Hard Bop, Cool usw. aus der Mode kam, als altbacken abgetan wurde und irgendwo im Regal verstaubte. Vielleicht konnte man das 1957, als Soulville erschien, aus der Distanz schon wieder anders wertschätzen. Aus heutiger Sicht sowieso.

Ach ja, Oscar Peterson und seine Band agieren sehr schön understated unterstützend mit gelegentlichen Soli. Und dann ist da noch die manchmal völlig übersteuerte E-Gitarre von Herb Ellis, die dadurch einen bissigen Klang kriegt und bei der ein anderer Produzent wohl auch schon längst den Stecker gezogen hätte. Aber die passt bestens in diese gelassene spontane Dramaturgie.

Alternate Takes scheint es gar nicht zu geben. Irgendwie logisch. Als Draufgabe enthält die CD-Re-Issue stattdessen drei Stücke von Ben Webster am Klavier.

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„Etwas ist da, was jenseits der Bedeutung der Worte, ihrer Form und selbst des Stils der Ausführung liegt: etwas, was direkt der Körper des Sängers ist, und mit ein- und derselben Bewegung aus der Tiefe der Stimmhöhlen, der Muskeln, der Schleimhäute, der Knorpel einem zu Ohren kommt, als wenn ein und dieselbe Haut das innere Fleisch des Ausführenden und die Musik, die er singt, überspannen würde.“ (Roland Barthes: Die Rauheit der Stimme)