Antwort auf: David Murray

#12395323  | PERMALINK

vorgarten

Registriert seit: 07.10.2007

Beiträge: 12,673

seasons (1998)

das hidden treasure in der murray-diskografie, bei dem man auf dem papier denkt: hier passt doch nichts zusammen. murray mit richard hanna, richard davis und victor lewis (ok, der passt), ein jahreszeitenprogramm aus der tin pan alley, das merkwürdige pow-wow-label, lauter eigenartige arrangements („autumn in new york“ als schnelle samba), ein „less-is-more“-zugang des leaders (steht so in den liner notes, die insgesamt ziemlich gaga sind), „let it snow“ als closer –  wie kann das so gut funktionieren? hier sind tatsächlich feine ohren nötig, die die doppeldeutigkeiten und untiefen des inside-playing wertschätzen, die man hier serviert bekommt. und tatsächlich auch fehler und schiefgang: hanna kann z.b. keine samba, davis witzigerweise aber schon, murray strauchelt bei den changes ordentlich, was ihn nicht daran hindert, genau dort seine herausforderung zu suchen und nicht darüber hinweg zu spielen. am ende ist das alles auf kreative weise rutschig, gleichzeitig total ernsthaft, und ruft nebenher aus den vorlagen heraus allerhand aus der jazzgeschichte auf, unterschiedliche rhythmen, harmonien, zugänge, verschiedene formen des glamours, entertainments, der showpraktiken. am ende wundert man sich wieder mal, was man aus guten songs alles machen kann.

in der euphorie der erstbegegnung schrieb ich hier damals sowas:

musste nochmal kurz auf den broadway. da sitzt nämlich das büro von pow wow records, für das murray 1998 dieses merkwürdige album aus jahreszeitengebundenen standards aufgenommen hat. also: frühling mit loesser (so kam ich drauf) und rodgers/hart, sommer mit legrand/bergman und herbert/dubin, herbst mit weil/anderson, duke und dubin/warren, winter mit thornhill/thornhill und cahn/styne. dafür hat der außerordentlich gechillte murray sich ein unterstützendes trio aus roland hanna (dessen „seasons“, für sarah vaughan geschrieben, hier als einführung dient), richard davis und dem unendlich lässigen victor lewis zusammengestellt. und man merkt, dass diese band zeit zum üben und zusammenfinden und arrangieren hatte. die versionen überraschen, obwohl sie sehr unaufgeregt daher kommen. der fast-weihnachts-song „spring will be a little late this year“ entsteigt einer gewitterwolke, „autumn in new york“ wurde offenbar in einem barrio aufgenommen, der „snowfall“ tritt als elegante cocktail-party auf. die band ist spitze, murray klang selten besser (mike marciano hat aufgenommen), aber es ist roland hanna, der hier wirklich überzeugt: er wienert theaterbühnen, hebt samtvorhänge, tanzt die showtreppe rauf und wieder runter, bevor der suchscheinwerfer ihn findet. ganz tolles album, habe ich damals komplett übersehen, als ich großer murray-fan war. let it snow, let it snow, let it snow!

da sind ein paar fehler drin, u.a. war ich damals ja gar kein großer murray-fan mehr. aber ansonsten hab ich das heute wieder genauso gehört. roland hanna wird nicht mein lieblingspianist, dazu finde ich ihn rhythmisch zu steif, aber wenn es um wirklich tiefe auseinandersetzung mit dem great american songbook geht, hat er einiges zu sagen. hier ist er absolut einzigartig.

--