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vorgarten
david murray quartet +1, fast life (1991)
auf jeden fall mein liebstes murray-album überhaupt, und das schon so lange, dass ich gar nicht mehr genau erklären kann, warum
new yorker straßenszenen in altrosa. für die jazzkritik war wahrscheinlich das wichtigste thema, dass murray hier für zwei stücke mit branford marsalis zusammenspielt, der sich ja generell nicht an klare fronten hielt (er ist das „+1“ hier). also clash der traditionalisten unterschiedlicher ausprägung, aber sie einigen sich hier auf eine entspannte bossa und ein wildes free-blowing piece, also keinen ellington. und branford hatte ein jahr zuvor selbst sein wildestes (mein liebstes) album herausgebracht, CRAZY PEOPLE MUSIC, war also ohnehin im späten coltrane angelangt. 4 stücke sind aber im quartett, und generell wichtiger als der gaststar ist idris muhammad als neuer drummer, der eine neue laszivität ins gefüge einbringt, aber auch über wuchtige effekte verfügt.
die bossa macht den anfang, interessanterweise von dave burrell komponiert, ein bisschen eine schrumpfform des „song for my father“, mit interessanten akkorden (die für mich nicht nach brasilien deuten, eher nach afrokuba). im vergleich zu branford fällt auf, wie schwer, groß und gewaltig der sound von murray ist. sie spielen zwei schlüssige soli, sehr unterschiedlich, branford mit sauberen ketten, murray mit vielen modulationen, und nach einem zurückhaltend-eleganten hicks-solo liefern sie sich noch ein kleines, freundliches battle – das allerdings aus dem stand heraus schon ziemliche hitze erzeugt.
mit noch mehr latin geht es weiter, „calle strella“ von einem wayne francis (keine ahnung, wer das ist) ist ein calypso, und hier kommt direkt eines von zwei mastersoli von murray, der sich reinwühlt, abhebt, perfekte dramaturgie, irrlichternder ausbruch auf wenigen takten – und die band schimmert elegant und gleichzeitig auch ein bisschen rumpelig dazu, komplett unironisch, aber streetwise (wie muhammad auf diesem album hier latin grooves spielt, ist unfassbar cool).
„fast life“, ein simples murray-thema (geschrieben für das octet oder die big band, ich weiß nicht mehr), wird dann zum battleground für murray und marsalis, aber auch für hicks, der fast widerwillig, aber mit immer größerer leidenschaft, auf seine alte far-out-techniken zurückgreift, wie um branford zu sagen: ist ja ganz schön, dass du deinen kenny kirkland hast, hier hat er gelernt. das ist ein wilder ritt, bei dem sich die beiden sparrignspartner nichts schenken und marsalis schön sein eigenes abdriften befeuert.
der gast verabschiedet sich unters sauerstoffzelt, das quartett atmet durch mit dem eleganten midtempo-swinger „luminous“, von john hicks‘ frau, der flötistin elise wood, geschrieben: viele changes, entspannte anlage, würde murray sich nicht wieder reinwühlen, bis es schmerzt, und das ding auf über 10 minuten streckt.
dann wird es wirklich überirdisch. murray hat „intuitively“, das quasikubanische schlaflied aus dem duokonzert mit dave burrell mitgebracht (burrell hat es mit seiner frau monika larsson zusammen geschrieben, interessant wie hier die frauen hinter den musikern sichtbar werden) – und muhammad erfindet einen unfassbaren groove dazu, ganz simpel, eigentlich hiphop, ghost notes, gegen die latin-anlage, um dann im ersten solo auf eine ridebeckenbegleitung auf 1 und 3 umzusteigen und den starren beat immer mehr zu synkopieren. das ist eine masterclass in cool. murray und hicks spielen den ganzen schmelz aus, ohne ironie, ohne dekonstruktion, da ist hicks sehr anders als burrell. höhepunkt ist die coda von murray, die alles rausholt, was schön ist am kitsch.
der höhepunkt dann zum schluss. das schon auf MORNING SONG vorgestellte „off season“, hier sehr schnell ohne den AB-rhythmuswechsel, in einem großen dramatischen flow immer stärkerer intensivierung. fängt ganz zart an, 6 töne vom bass, zaghaftes einsteigen von klavier und schlagzeug, das schöne einfache thema, dann das beste murray-solo aller zeiten, jeder chorus eine steigerung, bis zum nicht mehr nachvollziehbaren höhepunkt. danach (mein lieblingsmoment) tanzt die rhythm section ein paar takte zur erholung und hicks kriegt nochmal den gleichen bogen hin. was da an handwerk, tradition, eingespieltheit und arbeit hintersteckt, hat micht immer denken lassen: sowas kriegt man wirklich nur im jazz.
wahnsinnsband, hicks und muhammad kennen sich natürlich, sie haben sanders begleitet, kennen jeden trick der intensitätserzeugung, aber auch drummond fügt sich toll ein, tanzt, macht plötzlich druck, antizipiert jeden muhammad-effekt. den schluss bringt murray unbegleitet nach hause, bevor die band nochmal kakophonisch einsteigt und dann abbricht. der raum ist elektrifiziert, alles hallt nach, ich brauche jedesmal mindestens eine minute, um wieder zurückzukommen.
Das läuft gerade wieder – und ich habe keine Ahnung, warum das nicht sofort geklickt hat, als ich das vor einigen Jahren in die Hände gekriegt habe (leider weiss ich nicht mehr wann, schätze es dürfte um die zwölf Jahre her sein). Schon der Opener ist wahnsinnig toll – an Tagen drei und vier (am fünften und sechsten war die neue Band leider nicht mehr dabei) der Marathon-Sessions ist die Band warmgespielt und klingt so kompakt und abgestimmt wie die vom Januar 1988 – nur nochmal etwas besser … oder einfach noch packender.
Wahnsinnig schöne Stimmung, die dunkle Grundierung ist immer noch da, aber das ist kein „Noir“ mehr sondern ein sehr farbenfrohes Programm – die Latin-Grooves wurden schon erwähnt, Muhammad ist wirklich wahnsinnig toll darin! Drummond am Bass ist der Dunkelpunkt, Hicks bringt eine impressionistisch-bunte Farbpalette mit, die er in wahnsinnig tollen Soli ausbreitet – nicht flashy aber total gekonnt und aus einem offensichtlich gut gefüllten Erfahrungsschatz schöpfend. Und Murray taucht aus der Band auf und gleitet hoch in den Himmel und tief in die Erde. Hier hat er seine Form wieder, die in den Monaten davor manchmal nur durchgeschimmert ist, dünkt mich. Auf „Fast Life“ passt wieder alles: phantastische Band, interessantes Material, superbe Umsetzung durch alle Beteiligten.
Den Gast hätte es eigentlich gar nicht gebraucht, aber es gelingt Marsalis durchaus, eigene Akzente zu setzen, vor allem im Titelstück.
Bei meiner CD ist das Cover übrigens ein ganzes Stück heller und ich hätte eher „lachsfarben“ als „altrosa“ gesagt – eher so wie hier auf YT, aber noch etwas heller:
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