Antwort auf: David Murray

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gypsy-tail-wind
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Dass Murray das nicht gewusst hat finde ich doch erstaunlich … Doppelgängerscheu, wenn es um George Adams geht? Und das mit dem Instrument … mit dem etwas glatten Sound der Produktion von „Shakill’s Warrior“ tue ich mich ja schon schwer, auch wenn es unterm Strich sehr alte Schule ist. Aber die Orgel klingt halt schon manchmal ein wenig so, als könnte das ein neues Ding mit fancy Effekten sein.

Ich höre nochmal das hier:

vorgarten

david murray & pierre dørge’s new jungle orchestra, jazzpar prize (1992)

darüber hatte @gypsy-tail-wind schon im enja-thread lauwarm berichtet, die spekulation von zu wenig zeit für dichtes zusammenspiel und interessante arrangements könnte passen, nach murrays eigenem bigband-album finden die dinge hier eher als (gute) idee zusammen… mir macht das album aber trotzdem spaß. vor allem, weil murray hier gelegenheit bekommt, mit horace parlan zu spielen (eine ballade, ein gospel-medley und „in a sentimental mood“ im duo), der ihm auf so typische weise ganz viel raum gibt. diese ecke (wie soll ich das nennen: 80s->90s spiritual mainstream mit noch nicht aufgegebenen freejazz/loft-erfahrungen des kollektiven [community-] zusammenspiels, damit meine ich neben murray das art ensemble, adams/pullen, die sanders-quartette, shepp, special edition, das dave-holland-quintet, vielleicht auch ekaya, sogar prime time?, ulmers phalanx-band etc.) zeichnet sich ja ohnehin dadurch aus, dass da irgendwann jeder mal mit jedem spielt, und hier rückt murray im duo mit parlan plötzlich ganz nah an shepp heran – wobei man genauso lang über die unterschiede wie über die gemeinsamkeiten nachdenken könnte… und murray streift sogar als sänger seinen gospelhintergrund. und harry beckett gibt den special effect.

gypsy-tail-wind
Es läuft:

David Murray & Pierre Dorge’s New Jungle Orchestra – The Jazzpar Prize | Der Jazzpar-Preis galt ja in den Jahren seiner Existenz fast als sowas wie der Nobelpreis für Jazzmusiker (die eine Musikerin, die ihn kriegte: Geri Allen). Murray war 1991 der zweite, der ihn erhielt, wie bei den meisten anderen gab es vom Preisträger dann ein in Dänemark aufgenommenes Album, das in diesem Fall bei Enja erschien (16. und 17. März 1991, Focus Recording, Kopenhagen) – mit zwei Covern, anscheinend beide von 1992. Ich habe seit etwas über einem Jahr die schwarze Version oben.

Die Band des Gitarristen Pierre Dørge (einmal noch richtig geschrieben) kenne ich seit 25 Jahren oder so – und mag sie eigentlich lieber als hier. Ein Hauptanziehungspunkt ist die Präsenz von Harry Becket (t/flh), den ich auch hier für den Geheimtipp halte, der dem Gast/Leader fast etwas die Show stielt – auf seine leise, unnachahmliche Art, unaufdringlich aus dem Hintergrund immer wieder mit phantastischen Soli voller Charme glänzend. Los geht es aber mit einem tollen Posaunensolo (ich weiss nicht, ob von Per Jörgensen oder Jörg Huke), zu dem sich erst später die Band gesellt. Neben Murray ist auch Horace Parlan (p) aus den USA dabei, ansonsten gehören zur Band noch Jesper Zeuthen (as/bcl), Jacob Mygind (ts/ss), Irene Becker (keys), Jens Skov Olsen (b) und Audun Kleive (d) (zu früheren Line-Ups gehörte besonders auch John Tchicai, Beckett kann auch auf verschiedenen Alben gehört werden). Auf dem dritten Stück, einem „Gospel Medley“, ist zudem Sänger Donald Murray zu hören (ein Sohn? die Liner Notes geben nur einen biographischen Abriss von Murray und Infos zum Preis her) – ziemlich charismatisch, wie der Leader, wie Beckett … aber so richtig zusammenkommen will das alles hier für meine Ohren dann doch nicht, ich höre das als ein ganz gutes Dokument … und frage mich, ob man vielleicht nicht besser eine Woche getourt wäre und dann das Abschlusskonzert aufgenommen hätte? Da und dort wünschte ich mir wohl auch einen dunkleren, gewichtigeren Drummer (auf meinem ersten Album, „Johnny Lives“, Johnny Dyani gewidmet, der definitiv einen Einfluss hatte, ist Hamid Drake zu hören und der wäre auch hier perfekt gewesen). Die Synthesizer von Irene Becker gehören zur Band, ich kann mit ihnen längst gelassen umgehen, aber früher störten sie mich manchmal etwas. Was einzelne Beiträge angeht: Dorge hält sich wie üblich eher zurück … ich kann mir von ihm als Gitarristen aber trotz fünf oder sechs Alben kaum ein Bild machen. Er spielt schon ein paar Soli, aber den Löwenanteil kriegt hier Murray, gefolgt von Beckett. Mygind hat einen beeindruckenden Moment am Sopransax … aber das ist, wie immer beim New Jungle Orchestra, auch echte Bandmusik, in der es auf viel mehr als bloss auf einzelne Soli ankommt.

Nach den drei etwas kürzeren (6-9 Minuten) Stücken zum Einstieg (zweimal Dorge, dann Gospel) gibt es mit „In a Sentimental Mood“ eine Art Angelpunkt: Murray ist hier im Duo mit – nehm‘ ich an – Parlan zu hören und ist sehr überzeugend, beide lassen sich viel Zeit und solieren in den über neun Minuten ausgiebig. Dann folgen zwei lange Murray-Stücke (12 bzw. 10 Minuten), „Shakil Warriors“ und „Song for Doni“. Hier klingt die Band für meine Ohren etwas flach, die Arrangements sehr uninspiriert, vermutlich rasch im Studio ausgearbeitet. Murray zieht sein Ding durch – aber wenn in „Shakil“ Beckett mit seinem unverwechselbaren Sound übernimmt, setzt er für meine Ohren das Glanzlicht hier. Danach sind auch Dorge und Olsen zu hören, doch als ganzes entwickelt das nichts, die jammen einfach über Murrays Stück und hätten das gerade so gut im Quintett oder Sextett (Gitarre) oder Septett (die Keys von Becker). Als Closer gibt’s dann eine langsamere Nummer, schöner Beitrag vom Klavier (stets Parlan, nehme ich an – hier jedenfalls ziemlich sicher, das ist ganz schön old-fashioned, aber doch toll), ganz Stimmung, Kleive an den Besen – und dann wieder der Charisma-Moment, wenn Beckett einsteigt … wie schön!

Bei weitem kein Lieblingsalbum … ich reihe es mit meinen Dorge-Alben ein und höre es dann, wenn ich Harry Beckett hören will. Das ist ja auch gut, denn bei Murray ist die Auswahl ja nicht direkt klein.

Irgendwie fühlt es sich gerade an, als fände ich mich in einer Art Zwischen-Phase von Murray – die enorm tolle Zusammenarbeit mit Dave Burrell neigt sich dem Ende zu (das Duo auf Victo kenne ich nicht, aber „Death of a Sideman“ ist dann nochmal eine Combo – Hopkins, Backwell und Bobby Bradford), John Hicks ist noch nicht so ganz da (obwohl er auf „Ming’s Samba“ schon ordentlich beeindruckt hat – das schon 1985 entstandene Duo-Album „Sketches of Tokyo“ kenne ich leider nicht) – es gibt mehr Projekte abseits der Pfade: ein erster Auftritt mit Tyner 1987 („A Tribute to John Coltrane“), Projekte wie das Duo mit Randy Weston, Aufnahmen mit Cold Sweat oder Ralph Peterson, das Special Quartet, dazu ab 1988 die intensivere Zusammenarbeit mit James Blood Ulmer (bis 1991, dem Jahr, in dem ich grad ankomme, in dem die Diskographie quasi exploiert, auch wenn vieles natürlich erst ein paar Jahre später herauskam) … und eben auch diese Session mit der Gruppe von Pierre Dorge, die mir heute, mit anderen Erwartungen und in anderem Kontext ein ganzes Stück besser gefällt als neulich beim Enja-Marathon (kein Einzelfall, dass eine Re-Kontextualisierung den Fokus verschiebt). Aber dass Harry Becketts zartbittere Trompete/Flügelhorn die auratischste Stimme hier ist, das finde ich auch heute wieder – selbst wenn Murray als Starsolist in der mingus’schen Ballade „David in Wonderland“ von Anfang bis Ende als Solist glänzt.

Die grotesk-phallische Trophäe musste Murray hoffentlich nicht für ein Jahr mitnehmen und danach wieder in Kopenhagen abliefern?

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