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@vorgarten
david murray & dave burrell, in concert (1991)
ich springe jetzt ein bisschen in den aufnahmen aus 1991, (…) auch, weil ich gerade noch murray & takase im ohr habe. murray & burrell treffen sich nämlich ganz woanders, das wird hier von beginn an klar. free-kaskaden, dann ein pseudosimpler ragtime, ein riesenmurraysolo, bei burrell dann absturz und neu-aufbau. ein toller trip, gleich am anfang. es folgt das seit jeher zerklüftet-abstrakte „hope-scope“, das auch hier verlässlich auseinanderfliegt, dann die überschneidung mit BLUE MONK, „ballad for the black man“. tatsächlich mag ich die version mit takase lieber, weil sie zarter ist. aber hier kommt anschließend ein moment für die ewigkeit, burrells „intuitively“, eine ballade, sehr nah am kitsch gebaut, aber auch von großer melancholie, wie ein kubanisches schlaflied. burrell soliert hier nicht, sondern lässt murray unglaubliches tun, überblasene töne, nah am nicht mehr hörbaren, split sounds, das alles als ekstase über dem kitsch, das ist so wunderbar, dass ich mir allenfalls george adams als ersatzstimme denken könnte, der einen auch über hymnen zum heulen bringen kann. vielleicht mag friedrich das mal zum vergleich antesten?
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insgesamt ist das auch die burrell-show, er hat mehr platz in einem duo, kann mehr facetten der verschroebenheit einbringen, und das sind wirklich viele bei ihm. was für ein freier geist. und wie toll und ernsthaft murray mit den angeboten umgeht…
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Habe dieses Album jetzt ein paar mal im Strom gehört, auf der Arbeit über Kopfhörer und mit Lautsprecher auf dem heimischen Sofa.
Das hast Du oben schon sehr gut beschrieben. Im Vergleich zu Murray & Takase werden die Zügel hier viel lockerer gehalten, das ist verspielter, bricht in die eine oder andere Richtung aus, eskaliert bei Hope-Scope in dissonantem Krach und hat bei Intuitively keine Scham vor Sentimentalität. Mal tanzen Murray & Burrell eng umschlungen, mal driften sie weit auseinander. Und sowohl Murray als auch Burrell loten die Möglichkeiten ihrer jeweiligen Instrumente sehr weit aus. Eine entsprechende emotionale Berg- und Talfahrt ist das auch, mal berauschend, mal verträumt, auch mal an den Nerven zerrend, sehr organisch und spannend, aber auch nicht immer leicht zu hören. Als meine Mitbewohnerin bei Hope-Scope kurz ins Zimmer kam, sagte sie „Da darfst du dich aber nicht wundern, wenn du nachher schlecht schläfst!“
Ganz tolle Aufnahme, kann in dieser Spontanität, Unberechenbarkeit und Risikofreude wohl auch nur live entstehen. Will nicht urteilen, ob mir Murray mit Takase oder mit Burrell besser gefällt. Die Konzepte sind doch etwas anders. Murray & Takase mit mehr Bodenhaftung, klarer und kompakter, gefälliger (was ich nicht abwertend meine) Murray & Burrell luftiger, versponnener und herausfordernder.
(Kleine Anekdote zum Schluss: Ich hatte Murray & Burrell zunächst mit Knopf im Ohr auf der Arbeit gehört, während ich stundenlang auf einen Monitor schaute und war auf dem Nachhauseweg noch in der Stimmung dieser Musik. Bin dann noch zu meinem arabischen Barbier gegangen um mich rasieren zu lassen. Da lief wie immer eine Playlist, und zwar laut. Ich kannte keinen einzigen Song, aber stilistisch war das aktueller Elektro-Pop, clean und stromlinienförmig zielgruppengerecht produziert, reichlich Autotune, programmierte knackige beats, Melodien zum unter-der-Dusche-mitsingen, here today, gone tomorrow. Scheiße aber auch toll! Ich glaube einen größeren Gegensatz zwischen dieser Musik einerseits und Murray & Burrell andererseits gibt es auf dieser Welt nicht! Da wurden mir die besonderen Eigenschaften von Murray & Burrell noch mal bewusst.
In einem Stück kam immer wieder das Wort „lightning“ vor. Habe das Wort danach mal bei apple music gesucht. Es kamen diese zwei Treffer, Zoe Wees und Charli XCX. Könnten beide Teil dieser Playlist gewesen sein. Letzteres läuft unter „Hyper Pop“. Irgendwie schon wieder klasse! Wieder was dazugelernt. So wurde ein Besuch beim arabischen Barbier zum Bildungserlebnis )
zuletzt geändert von friedrich--
„Etwas ist da, was jenseits der Bedeutung der Worte, ihrer Form und selbst des Stils der Ausführung liegt: etwas, was direkt der Körper des Sängers ist, und mit ein- und derselben Bewegung aus der Tiefe der Stimmhöhlen, der Muskeln, der Schleimhäute, der Knorpel einem zu Ohren kommt, als wenn ein und dieselbe Haut das innere Fleisch des Ausführenden und die Musik, die er singt, überspannen würde.“ (Roland Barthes: Die Rauheit der Stimme)