Antwort auf: David Murray

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gypsy-tail-wind
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Home heisst das zweite Album des David Murray Octet – und es geht bezaubernd los mit Anthony Davis‘ versponnenem Klavier, dann einem Bläsersatz, wie Ellington ihn nicht schöner hingekriegt hätte: die Bassklarinette am Boden, dazu eine gedämpfte Posaune und eine Bassflöte (Threadgill). Letztere ist die einzige Änderung zum Line-Up von „Ming“, und Threadgill ist hier an der Bassflöte auch gleich der (einzige) Solist. In den folgenden „Santa Barbara and Crenshaw Follies“ ist der Retro-Groove zurück, doch nur bei den Bläsern: Morris/McCall machen aber was anderes, keinen Two-Beat-Rhythmus oder sowas – die zwei sind wirklich gut, von Morris mag ich ja in der Regel eher noch lieber als Hopkins, bisher der Favorit im Murray-Orbit. Butch Morris, der hier zu hören ist, ist inzwischen zu so einer zarten und eigenwilligen Trompetenstimme geworden, dass es schon verblüffend ist, dass er – zumal als Instrumentalist – völlig vergessen scheint. Dahinter baut das Ensemble dichtere Linien auf, aber ohne den Chaos- oder Energiefaktor von ähnlichen Passagen in „Home“, bis Murray am struttenden Sax übernimmt, grossspurig, rhythmisch nicht immer ganz auf den Punkt, was aber gut zum Klavier von Davis passt, das stellenweise ebenfalls wie kurz vorm Entgleisen klingt. Auch der „Choctaw Blues“ – eine Art Sing-Sang-Motiv von der Bassklarinette als Basis, der gestrichene Bass von Morris als Solo-Stimme, wieder über tollen Klavierakzenten – bietet ein konzises Arrangement der Bläser. Da struttet dann die ganze Band, und das kommt wie aus einem Guss daher, auch wenn sich Stimmen herauslösen. Das alles wirkt total luftig, gut strukturiert, verliert dabei aber keineswegs den wilden, manchmal anarchischen Charakter des Vorgängers oder von Murrays Musik generell. Der ist hier auch selbst wieder zu hören, verschwindet aber fast in der Band, aus der auch eine Trompete (Dara?) auftaucht, die Posaune, der tolle Beat von McCall, das betrunkene Piano von Davis … klasse, wie hier quasi ein kontrolliertes Durcheinander angerichtet wird. Repeat. Dann „Last of the Hipmen“ – Threadgill am Altsax mit schwangerem Ton aber auch er hält es hier nicht mehr für nötig völlig auszubrechen, was ihm gut bekommt. Davis und die Rhythmusgruppe agieren wieder mit einer Art Latin-Beat. Dann ist Dara an der Reihe, spielt ein superbes Solo – ein Musiker, den ich eigentlich schätze, wo immer er auftaucht, aber den ich auch noch nie so wirklich vertieft habe. Der souveräne Murray und McCall schliessen den Solo-Reigen ab, der Schlagzeuger mit interessanten kleinen Akzenten auf den Toms und ohne den Latin-Beat völlig zu verlassen. Als Closer kriegen wir noch „3D Family“ in einer Oktett-Version, wieder interessant arrangiert, mit einer Art gegenläufigen Drums und Bläsern. Murray erhebt sich hier gleich zu Beginn über der Band und spielt dann das erste Solo. Dann folgt hier der bei so einer Band halt wenigstens einmal nötige Solo-Reigen: man will die doch alle mal hören. Dara ist mit einem zweiten Solo der nächste, ich finde ihn hier etwas weniger überzeugend, er geht schnell aus dem lyrischen Gebiet in die drängenden, stotternden Riffs. Threadgill ist ebenfalls von Anfang an unter Druck, aber bleibt wieder tonal, mit einem Ton kurz vorm Überschlagen und von den Riffs der Blechbläser eingebettet, aus denen sich dann George Lewis‘ Stimme erhebt, rund und wohlgeformt, vokal, sehr agil und doch voluminös. Dann ist Davis dran, bleibt jedoch noch dichter in die Band eingebunden, die gemeinsam rifft, bis Murray sich nochmal empor schwingt … und das alles dann ausgeblenet wird.

Darauf war ich jetzt (ewig nicht gehört, die Box kam 2011, vermutlich da herum zuletzt) gar nicht so richtig gefasst. Eine ganz klare Steigerung gegenüber „Ming“, das ich halt vor 25 Jahren mal einzeln gekauft hatte, was – zusammen mit „The Hill“, „Body and Soul“, der „44th Street Suite“ und dem zufällig in die Hände gekriegten „Love and Sorrow“ – mein Einstieg in Murrays immense Diskographie der 80er und 90er war. Wirklich vertieft habe ich das lange nicht, irgendwann kamen Anregungen von euch hier, „Shakill’s Warrior“ und Nummer 2 via redbeans, „Fast Life“ und andere via vorgarten, und ich hab dann einfach DIW-Alben (aus den 90ern v.a.) gekauft, wann immer ich konnte. Und die paar Justin Time/Enja-Sachen auch, die ja nicht so super sind, unterm Strich.

Crouchs Liner Notes (ich lese sie hier etwas grösser als in der LP-Reproduktion der Murray Octet-Box) finde ich etwas … Lester Young hätte ihn an der Stelle wohl einen repeater’s pencil genannt. Er kommt schon wieder mit „Chasin‘ the Bird“ und ich verstehe das Herumreiten auf Kontrapunktik hier wirklich nicht, denn das geht doch weit darüber hinaus, schreibt Big Band-Traditionen fort, in denen aus Call-and-Response und meinetwegen kontrapunktischen, sich ergänzenden, auch geschichteten Linien etwas entsteht, das über so einfach durchhörbare Kontrapunktik weit hinaus geht?

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"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #163: Neuentdeckungen aus dem Katalog von CTI Records (Teil 2), 13.5., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba