Antwort auf: Enja Records

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Gianluigi Trovesi – Round About a Midsummer’s Dream | Das Mittelmeer-Segment geht weiter mit einem alten Lieblingsalbum … wobei ich damals einen 20 oder 30 Minuten längeren Radiomitschnitt (Willisau?) des Programms nochmal ein ganzes Stück lieber mochte als die wieder in Zusammenarbeit mit dem SWR (Achim Hebgen) entstandene, vom 5. bis 8. Juli 1999 bei einer SWR Jazz Session im Tollhaus in Karlsruhe sowie im UKO Studio 1 in Baden-Baden eingespielte CD. Die Musik stammt grossteils von Trovesi, es gibt ein kurzes Vivaldi-Fragment und Charakterstücke von Sideman: das Folk-Trio hat seine Charaktere selbst komponiert: solo geben Percussionist Carlo Rizzo den „Puck“ (die gelegentlichen Sprechgesang-Passagen kommen auch von Rizzo), Bassist Renaud Garcia-Fons den „Oberon“ und Akkordeonist Jean-Louis Matinier den „Bottom“. Los geht es zunächst mit dem Barock-Trio in einem Renaissance-Stück, „L’infanta arcibizarra“ von Andrea Falconieri: Stefano Montanari und Stefania Trovesi an Violinen und Paolo Ballanti am Violoncello. Dazu kommt das moderne Jazztrio: Gianluigi Trovesi (Piccolo-Klarinette, Bassklarinette, Altsax), Paolo Manzolini (Gitarre) und Fulvio Maras (Drums, Percussion). Eingebettet in das Nonett ist auch eine Trio-Formation, die der junge Trovesi oft beim Tanz hörte: Klarintte, Gitarre und Akkordeon. Etwas über eine Stunde dauert die CD, das Material ist lose an Shakespeare’s Vorlage angelehnt, es gibt Auftritte und die drei Trios repräsentieren teils unterschiedliche Szenen oder Gruppen, das tolle Percussion-Solo „Puck“ dient aber z.B. auch einfach als Einleitung zum folgenden „Orobop“, einen Schlaflied für Titania, in dem viele schreckliche Tiere ihren Auftritt haben, was wie der Titel verrät mit Bebop-Anleihen ausgedrückt wird („orobi“ ist auch eine alte Bezeichnung für die Einwohner*innen von Bergamo). Anderswo gibt es Tänze, etwa eine neapolitanische „Villanella“, aus der dann das Bass-Solo „Oberon“ ins nächste Stück überleitet, oder das „Adagietto bergomasco“, ein Rhythm & Blues-Stück, in dem Oberon und Puck ihre Zauberstücke vorführen. „Bottom“, das Akkordeon-Solo, leitet dann in den Closer über, eine „Canzonetta“, einen polyphonischen Tanz aus Norditalien (wo Trovesi herkommt), der auch im England des 17. Jahrhunderts populär war.

Trovesi findet seinen Schlüssel, um europäischen Jazz zu spielen, in den eigene Wurzeln eingespeist werden, in der Renaissance – in den ähnlichen Harmonien, die für Jazz-Improvisation so gut geeignet sind, aber auch in den Rhythmen der verschiedenen Tänze. In „C’era una strega“ (auch auf „Castel del Monte“ zu hören, s.o.) spielt das Jazztrio (cl/g/d) im Dialog mit den anderen beiden Trios, es gibt klassischen Jazzgitarre, eine Klarinette mit jazztypischem „cry“, sich stetig wandelnde Backgrounds (Bruno Tommaso hat die Variationen der Streicher beigetragen, Stefano Montanari die Violinkadenzen am Anfang und Ende). Wenn es bei Shakespeare um Musik und ihre magischen Kräfte geht, ist das natürlich eine perfekte Vorlage. Bottom fragt im fünften Akt: „Will it please you to see the epilogue or to hear a bergamask dance between two of our company?“ – Gemeint ist damit tatsächlich der norditaliensiche Volkstanz, der in der Gegend um Bergamo Mitte des sechzehnten Jahrhunderts entstanden ist, und der eine einfache harmonische Struktur hatte: I-IV-V-I, über die eine Gitarre improvisierte – kommt bekannt vor? Trovesi überträgt das alles in seine Suite, in der Musik von faszinierender Buntheit und grossem harmonischen, rhythmischen und melodischen Reichtum erklingt – und erweist sich auch einmal mehr als wahnsinnig toller Klarinettist, ebenso wie als mitreissender Altsaxophonist. Vielleicht ist zum Abschluss noch ein Ellington-Vergleich gestattet? So reichhaltig kommt mir Trovesis Musik hier nämlich tatsächlich vor. Ein Lieblingsalbum ist das schon lange nicht mehr, aber es macht mir auch in den letzten Jahren beim gelegentliche Wiederhören jedes Mal Freude.

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